Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 294

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1900

Einige Stichproben

[1]

Die Reichsregierung hat entschieden Pech mit den „Begründungen“, die sie in der letzten Zeit ihren wichtigsten Gesetzesvorlagen beilegt. Das grausame Schicksal, das die Begründung der Zuchthausvorlage ereilte, sobald sie ans Tageslicht kam, ist noch in frischer Erinnerung. Die Begründungen der letzten Militärvorlage sowie der Flottenvorlage von 1898 haben gleichfalls ein reichliches Maß Spott und Hohn über sich ergehen lassen müssen, bis die von vornherein zum Umfall bereiten bürgerlichen Parteien den Wünschen der Regierung willfahrten.

Keine Vorlage hat aber mit ihrer Begründung ein solches Malheur gehabt wie die jetzige Flottenvorlage.[2] Was hat nicht alles schon als „Grund“ für die deutsche Flottenvermehrung herhalten müssen! Der Spanisch-Amerikanische Krieg[3] und der gegenwärtige Transvaalkrieg[4], die Beschlagnahme der deutschen Postdampfer durch die Engländer[5] und die Schutzbedürftigkeit der deutschen Kolonien, die Ausfuhrinteressen der Industrie und die Interessen der landwirtschaftlichen Einfuhr – die verschiedenartigsten, unzusammenhängendsten Momente, die nur das gemein haben, daß kein einziges in irgendeinem tatsächlichen Verhältnis zur geplanten Marinevergrößerung steht. …

Die Denkschrift[6], die der Vorlage nun von der Regierung beigegeben ist, erreicht aber den Gipfel dieser Begründungsmethode, indem sie so viele und mannigfaltige

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[1] Der Artikel ist mit einem ⚓, einem ihrer Zeichen versehen. In der RL-Bibliographie von Feliks Tych von 1971, ist er unter Nr. 24 ausgewiesen.

[2] Nach Annahme der ersten Flottenvorlage als Flottengesetz vom 10. April 1898 (mit der Deutschland das Wettrüsten zur See, das zur Verschärfung des Gegensatzes zwischen Deutschland und England führte, begann) wurde Ende 1899 eine zweite Flottenvorlage vorbereitet, die am 12. Juni 1900 mit 201 gegen 103 Stimmen angenommen wurde. Sie sah eine Verdoppelung der vorgesehenen Schlachtflotte bis zum Jahre 1917 vor. Die deutsche Flotte soll danach aus 34 Linienschiffen, 11 schweren und 34 leichten Kreuzern und rd. 100 Torpedobooten bestehen, außerdem aus einem Reservegeschwader von 4 Panzerschiffen, drei schweren und vier leichten Kreuzern. Als Kosten wurden in der Vorlage 1861 Mill. M angegeben.

[3] Mit dem Spanisch-Amerikanischen Krieg April bis Dezember 1898 verstärkten die USA ihren Einfluß in Lateinamerika, erweiterten ihr Kolonialreich durch Kuba, Puerto Rico und Guam und erorberten mit den Philippinen eine strategisch wichtige Militärbasis in Ostasien.

[4] Nach der Entdeckung von Goldfeldern in Transvaal hatte England im Oktober 1899 einen Krieg gegen die Burenrepublik in Südafrika provoziert. Nach anfänglichen militärischen Schwierigkeiten gelang es England, durch einen brutalen Unterdrückungsfeldzug die Buren im Mai 1902 der britischen Herrschaft zu unterwerfen.

[5] Unter dem Vorwand, Kriegsmaterial an die aufständischen Buren in Südafrika zu transportieren, hatten im Januar 1900 englische Kriegsschiffe in Aden drei deutsche Postdampfer beschlagnahmt, sie in den Hafen von Durban verbracht und drei Wochen festgehalten. Am 19. Januar hatte der Staatssekretär des Auswärtigen, Graf von Bülow, über Verhandlungen mit England zur Freigabe der Postdampfer berichtet und die Angelegenheit für erledigt erklärt.

[6] Mit Denkschrift ist die Beilage „Die Steigerung der Deutschen Seeinteressen von 1896 bis 1898“ zum Entwurf einer Novelle zum Gesetz betreffend die deutsche Flotte mit Anlagen gemeint, die Reichskanzler, Fürst zu Hohenlohe, am 25. Januar 1900 in den Reichstag eingebracht hatte. Die Beilage bestand aus neun Teilen, darunter über die Bevölkerungsbewegung und den Außenhandel, speziell den Seehandel, auf die Rosa Luxemburg Bezug nimmt. Siehe Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages. 10. Legislaturperiode. I. Session 1898/1900. Fünfter Anlageband, Berlin 1900, S. 3406 ff.