Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 114

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1898

Rede zu den Reichstagswahlen am 5. Juni 1898 in Breslau

[1]

Nach einem Zeitungsbericht

Noch nie ist ein Reichstag mit einer so lobreichen Nachrede zu Hause geschickt worden als derjenige, dessen Mandat am 15. Juni abläuft. Das arbeitende Volk hat keine Ursache, in das Lob einzustimmen, welches dem scheidenden Reichstage von höchster Stelle gezollt worden ist. Was haben die Männer, denen dieses Lob zuteilgeworden ist, für das deutsche Volk Ersprießliches getan? Die erste Tat des scheidenden Reichstages war die Annahme der Caprivischen Militär-Vorlage[2] und die letzte Tat bedeutet für das deutsche Volk ebenfalls die Auferlegung eines neuen großen Opfers. Dabei haben die bürgerlichen Patrioten nicht einen Vorschlag gemacht, die Mittel zur Durchführung ihrer Beschlüsse auch von den Kreisen zu erheben, die ein so großes Interesse für den Land- und Wassermilitarismus bekunden. Das Volk soll zahlen, das Volk soll dienen. Das so rühmend hervorgehobene Bürgerliche Gesetzbuch[3] sei durch die soziale Entwicklung längst überholt. Dasselbe lasse die ganze reaktionäre Gesetzgebung der Einzelstaaten bestehen. Auch die Beratungen über die Neuerung der Militär-Strafprozeßordnung haben keinen befriedigenden Abschluß gefunden. Bei der famosen Umsturzvorlage[4] habe es sich gezeigt, wie groß der Haß ist, den die besitzende Klasse gegen das Proletariat hegt. Obgleich aber alle Parteien nach der

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[1] Überschrift der Redaktion.

[2] Unter Leo Graf von Caprivi, 1890 bis 1894 Reichskanzler, legte die Regierung am 23. November 1892 eine neue Militärvorlage vor, in der sie die Vermehrung des stehenden Heeres um 86000, auf durchschnittlich 572000 Mann, und die Vermehrung der Reserve durch Reduzierung der Dienstzeit für Fußtruppen bis Frühjahr 1914 auf 4,4 Mill. Mann forderte. Einmalige Mehrkosten von 68 Mill. M und fortdauernde Mehrkosten von 64 Mill. M sollten hauptsächlich durch erhöhte Bier- und Branntweinsteuer aufgebracht werden. Diese Militärvorlage übertraf alle Heeresverstärkungen seit 1874. Erst nach Auflösung des Deutschen Reichstages durch Wilhelm II. am 6. Mai und nach den Reichstagswahlen am 15. Juni 1893 wurde die gering veränderte Militärvorlage am 15. Juli 1893 mit 201 gegen 185 Stimmen angenommen. Dagegen stimmten die Abgeordneten der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, des Zentrums, der Freisinnigen Volkspartei sowie die Welfen und die Elsässer.

[3] Den Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches nahm der Deutsche Reichstag gegen die Stimmen der sozialdemokratischen Abgeordneten am 1. Juli 1896 an. Das BGB trat ab 1. Januar 1900 in Kraft.

[4] Am 6. Dezember 1894 hatte die Regierung im Reichstag den „Entwurf eines Gesetzes, betr. Änderungen und Ergänzungen des Strafgesetzbuches, des Militärstrafgesetzbuches und des Gesetzes über die Presse“ eingebracht. Diese sogenannte Umsturzvorlage sollte die Unterdrückungspolitik gegen die Sozialdemokratie gesetzlich sanktionieren. Angesichts der Massenproteste, besonders des energischen Kampfes der Sozialdemokratie, wurde die Vorlage in zweiter Lesung am 11. Mai 1895 im Reichstag abgelehnt.