Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 115

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Umsturzvorlage geschrien haben, wie der Hirsch nach frischem Wasser, so sei sie doch abgelehnt worden. Das kam aber eben daher, weil jede der Parteien fürchten mußte, daß sie sich damit selbst die Schlinge um den Kopf legen würde. Gerade die Art der Ablehnung habe gezeigt, daß diese Gefahr für das Proletariat noch nicht vorüber ist. Abgelehnt hat der Reichstag auch das Arbeiterschutzgesetz.[1] Unerledigt geblieben ist auch der Schutz der Bergarbeiter. Das neue Handwerkergesetz[2] mit seiner Mittelstandsscheinrettung bedeute weiter keinen Fortschritt. Bezeichnend sei ferner auch der Stillstand der Sozialpolitik. Am charakteristischsten sei aber das letzte Wort des Reichstages, welches er in der Kornzolldebatte gesprochen hat.[3] Was Frankreich und Italien herbeigeführt haben, das hat der Deutsche Reichstag nicht fertig gebracht. Nach alledem hat das arbeitende Volk keine Ursache, dem scheidenden Reichstag Dank zu spenden. Was sollen wir nun von dem künftigen Reichstage erwarten? Die Befürchtungen, welche nach dieser Richtung ausgesprochen werden, sind keine bloßen Kassandra-Rufe der Sozialdemokratie. Wie es um das Wahlrecht bestellt sei, das beweise ja die Erklärung des Abgeordneten Müller-Fulda.[4] Die Nachricht sei zwar vom „Reichsanzeiger“ dementiert worden, aber man wisse ja aus früheren Vorkommnissen, was es mit derartigen Dementis auf sich habe. Wie es mit dem Koalitionsrecht bestellt sei, das zeige der geheime Erlaß des Grafen Posadowsky.[5] Die soziale Gesetzgebung habe ohne das Koalitionsrecht keinen Wert, sondern bekomme erst durch das Letztere ein festes Rückgrat. In Gefahr sei ferner auch die Freizügigkeit. Die Agrarier und besonders die schlimmste Sorte derselben, die schlesischen und hiervon wiederum die oberschlesischen, haben wiederholt erklärt, daß auch auf diesem Gebiete Änderungen eintreten müssen. Außer diesen Verkürzungen der wichtigsten Rechte drohen dem Volke aber auch noch neue Belastungen. Vor allen Dingen dürf

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[1] Nach der Krankenversicherungsnovelle war ab 1892 in der Arbeiterschutzgesetzgebung ein völliger Stillstand eingetreten. Näheres darüber in: Die Arbeiterschutz-Heuchelei der Bürgerlichen Parteien im Reichstage. Nach dem Stenographischen Bericht der Verhandlungen des Deutschen Reichstages vom 22. und 23. April 1896. Mit einem Nachwort von A. Bebel, Berlin 1896.

[2] Gemeint ist das Gesetz betreffend die Novellierung der Gewerbeordnung vom 26. Juli 1897. Erstmals wurde eine Handwerksordnung erlassen, die eine Handwerkskammer legitimierte, der alle Handwerker beizutreten hatten.

[3] Gemeint ist die Erklärung des Staatssekretärs des Reichsschatzamtes, Freiherr von Thielmann, am 5. Mai 1898 zur Interpellation der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion zur zeitweiligen Aufhebung der ungewöhnlich hohen Getreidepreise. Thielmann lehnte die Aufhebung der Getreidezölle ab.

[4] Auf einer Wahlversammlung Anfang Mai 1898 hatte der Reichstagsabgeordnete Müller-Fulda über Pläne der Regierung zur Änderung des Reichstagswahlrechts berichtet, was im „Reichsanzeiger“ dementiert wurde.

[5] Der Vorwärts hatte am 15. Januar 1898 einen Geheimerlaß des Staatssekretärs im Reichsamt des Innern, Arthur Graf von Posadowsky-Wehner, vom 11. Dezember 1897 veröffentlicht, der von den Regierungen der deutschen Einzelstaaten Vorschläge für gesetzliche Maßnahmen gegen das Streikrecht und die Koalitionsfreiheit der Arbeiter forderte. Im Gefolge dessen verschärfte sich der reaktionäre Kurs auf allen Gebieten des wirtschaftlichen und politischen Lebens.