1903
Zur Frage der polnischen Einigung
[1]Man schreibt uns von parteigenössischer Seite: Mit dem größten Bedauern müßte jedermann, der das Zustandekommen der Einigung mit der polnischen Sondergruppe der Genossen aufrichtig herbeiwünscht, den Bericht vom Parteitag der genannten Gruppe lesen.[2] Wir haben absichtlich abgewartet, ob nicht eine Dementierung dieses Berichts von interessierter Seite erscheint, dies ist aber nicht der Fall. Wir müssen also mit den Beschlüssen und Verhandlungen des polnischen Parteitags rechnen. Für jeden mit der Sache Vertrauten aber ist es klar, daß dieser Parteitag das mit solcher Mühe beinahe zustande gebrachte Werk der Einigung schwer gefährdet und eine ganz neue Lage in dieser Sache schafft.
Wir wollen hier zur Orientierung der Parteipresse wenigstens die Hauptpunkte hervorheben. Auf dem Parteitage ist über die „Mißhelligkeiten zwischen den polnischen und deutschen Genossen“ laut dem Bericht des „Vorwärts“[3] die folgende Darstellung vom polnischen Vorstand gegeben worden: „Die polnisch-sozialistische Partei hätte jahrelang mit der deutschen Sozialdemokratie in Frieden gelebt, bis einzelne Elemente die Einigkeit untergraben hätten. — Die Entsendung Dr. Winters nach Oberschlesien, seine und der Frau Rosa Luxemburg Agitation haben den Riß ständig zu erweitern getrachtet, der Fall Kasprzak trat hinzu, und so kam es zum Bruch auf dem Münchener Parteitag.“
Daß die Mitglieder der polnisch-sozialistischen Sondergruppe auf diese Weise die entstandenen Differenzen erklären, ist von früher her wohl bekannt. Es ist aber klar, daß es angesichts der beabsichtigten Einigung angebrachter und loyaler gewesen wäre, diese alte Darstellungsweise zu unterlassen, um durch persönliche Gehässigkeiten die im gleichen Atem begrüßte Einigung nicht zum Spott zu machen.
Bekanntlich haben weder Dr. Winter, noch die Genossin Luxemburg, noch irgendwelche „einzelnen Elemente“ den tiefbedauerlichen Zwist mit der polnischen Sonderorganisation verschuldet, sondern der nationalistische Charakter ihrer Agita
[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet. Nach Rosa Luxemburgs Brief an Julius Bruhns [vor dem 6. Januar 1903] ist sie die Autorin, siehe GB, Bd. 2, S. 8 ff.
[2] Gemeint ist der VII. Parteitag der PPS im preußischen Annexionsgebiet, der am 25. und 26. Dezember 1902 in Berlin stattgefunden hatte, siehe auch S. 457.
[3] Der Bericht „Polnisch-sozialistischer Parteitag“, mit E. M. gezeichnet, war im Vorwärts Nr. 302 vom 28. Dezember 1902 erschienen. Die Hervorhebungen in den Zitaten stammen von Rosa Luxemburg.