Die Revolution in Rußland
[1]Der Arbeiterdeputiertenrat, das Hauptkomitee des Bauernkongresses, das Zentral- und Organisationskomitee der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und das Zentralkomitee der Partei der Sozialrevolutionäre haben ein „Manifest“ veröffentlicht, in dem nach einer Kritik der Regierung und der wirtschaftlichen Lage erklärt wird, keine Ablösungszahlen und andere Staatssteuern zu entrichten, bei Kaufabschlüssen und Lohnzahlungen nur Gold, bei Zahlungen unter fünf Rubel nur klingende Münze als Gegenwert anzunehmen, aus den Sparkassen und der Reichsbank die Einlagen zurückzuziehen und diese in Gold zu verlangen, und schließlich Zahlungen für solche Anleihen, die zu einer Zeit abgeschlossen wurden, als sich die Regierung in offenem Kampfe gegen das Volk befand, nicht zuzulassen.
Die Arbeiter, die ihre Macht und Entschlossenheit bewiesen haben, werden von den Bürgerlichen umworben. Englische Blätter melden: Die Arbeiter- und Bauernbünde bereiten für Januar eine Art gemeinsames Parlament vor. Der „Verband der Verbände“ bemüht sich, die Sozialisten zu sich heranzuziehen und wirbt um ihre Unterstützung, indem er ebenfalls für den Beschluß zugunsten einer bewaffneten Erhebung eintritt.
Die fortschrittlichen Blätter treten weiter für ein Zusammengehen aller Linksparteien ein, wozu sie zählen: Konstitutionelle Demokraten, Radikale, Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre, doch kommt ein Zusammengehen mit den Anarchisten (Es gibt in Rußland nur ein oder zwei Dutzend solcher. Die Red.), die selbst von den Sozialrevolutionären zurückgewiesen werden, nicht in Frage. Bisher haben die Sozialisten das Entgegenkommen der gemäßigten Parteien sehr geringschätzig aufgenommen.
Der Aufruhr in der Armee
Der „Daily Telegraph“ meldet: Das letzte Telegramm des Oberkommandierenden der Mandschureiarmee, General Linewitsch, an das Kriegsministerium in Petersburg lautete: „Ich kann das Anwachsen und die Ausbreitung der revolutionären Propaganda im Heer nicht bekämpfen. Bereits über die Hälfte des Heeres meutert. Die Reservisten verlangen sofortige Heimbeförderung und wollen kein Papiergeld neh-
[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“.