Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 173

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Der neunte Jahreskongreß des „Nationalverbandes der Gewerkschaften und Korporativgruppen Frankreichs“

[1]

hat am 22. September in Montluçon getagt. Der „Nationalverband“ umfaßt die Gewerkschaftsorganisationen, welche der Sozialistischen Arbeiterpartei anhängen, also zu den sogenannten Marxisten[2] gehören. Am Kongreß nahmen 50 Delegierte teil, welche 182 Gewerkschaften und acht Gewerkschaftsverbände und Arbeitsbörsen vertraten. Die Organisationen verteilten sich auf 43 Städte und 25 Departements. Der Bericht des „Nationalrates“, der Zentralleitung, konstatierte einen langsamen, aber erfreulichen Aufschwung des „Nationalverbandes“. Derselbe soll an Mitgliedschaften und an Mitgliedern gewonnen haben. Der Kongreß beriet eingehend über die in nächster Zeit zu entfaltende Agitation des „Nationalverbandes“ und nahm Stellung zu einer Reihe Fragen bzw. Reformforderungen. Er protestierte energisch gegen das Gesetz Trarieur,[3] das die Arbeiter und Angestellten der sogenannten öffentlichen Betriebe (Staatsbetriebe, Eisenbahnen) des Koalitionsrechtes berauben will und beauftragte den „Nationalrat“, eine kräftige Aktion gegen die Verwirklichung dieses Gesetzes zu entfalten. Der Kongreß beschloß, daß die Gewerkschaften bei den Kammerwahlen nur solche Kandidaten unterstützen sollten, welche sich zum Eintreten für die Forderungen der Arbeiter verpflichteten. Er forderte die Einrichtung von obligatorischen Gewerbeschiedsgerichten für die Arbeiter und Arbeiterinnen aller Berufsarten. Desweiteren verlangte er, daß Staat, Departement, Gemeinde und sonstige öffentliche Verwaltungen bei allen Submissionen in ihren Kontrakten mit den Unternehmern folgende Bedingungen festlegen sollten: 1. den Achtstundentag, 2. einen wöchentlichen Ruhetag, 3. ein Lohnminimum, das von den Gewerkschaften der Gegend festgesetzt wird. Der Kongreß beschloß zur Frage der Fabrikinspektion, daß die Fabrikinspektoren und -inspektorinnen von den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern und Arbeiterinnen gewählt werden sollten. Er erklärte, daß der oberste Arbeitsrat die Interessen der Arbeiterklasse nicht genügend wahre und daß zum Zwecke eines Wandels zum Besseren nur die Hälfte seiner Mitglieder von der Regierung ernannt, die andere Hälfte aber von den Gewerkschaften gewählt werden sollte. Nach sehr lebhaften Debatten sprach sich der Kongreß für ein Gesetz

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[1] Der Artikel ist mit ♂, einem von Rosa Luxemburgs Zeichen, versehen. An Leo Jogiches hatte Rosa Luxemburg am 10. Juli 1898 geschrieben: „Mit Parvus [Redakteur der SAZ] habe ich die Beziehungen aufs beste hergestellt: Ich schreibe solche Notizen für ihn, wie Du sie dort hast, über Polen, Frankreich und Belgien. Sie geben mir 30 M im Quartal für das Zeitschriftenabonnement! Natürlich neben dem Honorar.“ Bei Gelegenheit wünsche er solche Notizen auch über England, Italien und die Türkei. Siehe GB, Bd. 1, S. 171.

[2] Die französische sozialistische Bewegung wies in den 90er Jahren des 19. Jh. eine kollektivistische, marxistische (Guesdisten), eine possibilistische, kleinbürgerlich-reformistische (Broussisten), eine blanqui-stische, sektiererische (Blanquisten), eine anarcho-syndikalistische (Allemanisten) und eine „unabhängige“ sozialreformerische (Jaurèsisten) Strömung auf.

[3] Das Gesetz des Justizministers Ludovic Jaques Trarieur von 1895 richtete sich gegen das Koalitionsrecht der Arbeiter und bedrohte Streikende mit Strafen von sechs Tagen bis zu drei Jahren Gefängnis und 16 bis 3000 Francs Geldbuße.