Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 174

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aus, welches Zwangsgewerkschaften schafft. In diesem Beschluß liegt unseres Erachtens das Eingeständnis, daß die französischen Gewerkschaften bis jetzt eine sehr schwache Entwicklung aufweisen und nur eine geringe Werbekraft auf die Arbeitermassen ausüben. Der Kongreß erklärte sich zu Gunsten des Antrags Jaurès, das staatliche Monopol auf die Getreideeinfuhr und die staatliche Regelung der Getreidepreise betreffend, sowie für die Errichtung nationaler Getreide- und Mehlmagazine. Er forderte schließlich die Einführung der staatlichen Kranken-, Invaliden- und Altersversorgung, die Abschaffung der privaten Arbeitsnachweisbüros und das gesetzliche Verbot der Arbeit in Klöstern und Gefängnissen. Der „Nationalverband der französischen Gewerkschaften“ wird laut Beschluß des Kongresses sich am Internationalen Sozialistischen Arbeiterkongresse zu Paris 1900 vertreten lassen. Ein kritischer Blick über die Kongreßarbeiten läßt zwei Erscheinungen scharf hervortreten. Die Erörterung der eigentlichen gewerkschaftlichen Angelegenheiten und Aufgaben nahm einen nur verhältnismäßig geringen Raum ein und kam vielfach nicht über Allgemeinheiten hinaus. Es ist dies bezeichnend für die schwächliche Entwicklung der französischen Gewerkschaftsbewegung und für die geringe Klarheit, das mangelnde Verständnis der französischen Arbeitermassen den Zielen der Gewerkschaften gegenüber. Anderseits wurde die Stellungnahme der Gewerkschaften zu der Frage des gesetzlichen Arbeiterschutzes, zu sozialen Reformforderungen an die Gesetzgebung überhaupt, stark in den Vordergrund geschoben. Die marxistischen Gewerkschaften bekennen sich zu dem durchaus richtigen Grundsatz, daß Gewerkschaftsbewegung und gesetzliche Reformen zu Gunsten des Proletariats einander nicht ausschließen, vielmehr einander ergänzen und fördern müssen. Und in Frankreich können die Gewerkschaften tun, was sie in Deutschland lassen müssen, dank der reaktionären Gesetzgebung und der noch reaktionäreren Auslegung der Gesetzestexte. Sie können sich mit „politischen Angelegenheiten“ beschäftigen, ohne deshalb als umstürzlerisch der Auflösung zu verfallen. Die Gewerkschaften vermögen deshalb nicht bloß auf wirtschaftlichem Gebiete um bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Es ist ihnen vielmehr möglich, auch auf politischem Gebiete die Macht der Organisation zu Gunsten der proletarischen Forderungen unbehindert und uneingeschränkt in die Waagschale zu werfen. Schade, daß die rückständige Entwicklung des Gewerkschaftswesens in Frankreich nach der einen wie der anderen Richtung hin keine große Machtentfaltung zuläßt. Das gilt nicht bloß von den marxistischen Gewerkschaften, sondern auch von den zum Teil etwas besser organisierten und kräftigeren Gewerkschaften allemanistischer Richtung,[1] welche sich zum Überfluß noch mit dem Gepäck des Glaubens an die erlösende Macht des Generalstreikes schleppen.

Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden),

Nr. 228 vom 1. Oktober 1898.

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[1] Sie waren Anhänger von Jean Allemane, französischer Sozialist, Kommunarde, Journalist, vertrat anarcho-syndikalistische Auffassungen; gründete 1890 die Revolutionäre Sozialistische Arbeiterpartei.