Editionsgeschichte
Rosa Luxemburg (1871–1919) hat ein breites publizistisches und theoretisches Werk hinterlassen, im Wesentlichen auf Polnisch und Deutsch, aber auch auf Russisch und Französisch. Die im Dietz Verlag Berlin (heute: Karl Dietz Verlag Berlin) seit den 1970er-Jahren erscheinenden Bände sind die umfassendste Sammlung der Schriften von Rosa Luxemburg. Die Betreuung der Ausgabe liegt in der Hand der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Erste Anläufe
Eine erste Ausgabe von Werken Rosa Luxemburgs (1871–1919) hatte 1921 bereits die Kommunistische Internationale beauftragt. Diese Edition wurde aber 1928 auf Weisung Stalins (1878–1953) abgebrochen, der den Machtkampf in der Sowjetunion nach Lenins Tod 1924 für sich entschied. Zuvor hatte die Zentrale der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) ein schmales Bändchen – „Briefe aus dem Gefängnis“ (1920) – herausgegeben, das Rosa Luxemburg einem Publikum weit über ihren eigentlichen Wirkungskreis hinaus bekannt gemacht hatte und bis heute, um einige neu entdeckte Briefe ergänzt, immer wieder aufgelegt wird. Die 21. Auflage erschien zuletzt im Jahr 2021 im Karl Dietz Verlag Berlin.
1923 veröffentlichten auch Luise und Karl Kautsky einen Band mit den von Rosa Luxemburg an sie gerichteten Briefen. Ein Jahr zuvor hatte Paul Levi, Luxemburgs Nachfolger an der Spitze der KPD, ihr Fragment über die russische Revolution veröffentlicht und dadurch den Zorn der Bolschewiki auf sie gelenkt. Luxemburg hatte in dem Manuskript Lenin und seine Politik kritisiert. 1931 erklärte Stalin Rosa Luxemburg zur „Halbmenschewistin“ und untersagte damit für seinen Einflussbereich jeden weiteren inhaltlichen Bezug auf Rosa Luxemburg.
Stalins Verdikt
Was ist eine „Halbmenschewistin“? Die Menschewiki (russisch: Minderheit) und Lenins Bolschewiki (russisch: Mehrheit) entsprangen einer Wurzel und bildeten zwei Fraktionen einer bis 1912 noch vereinten Sozialdemokratischen Partei Russlands. Während die Menschewiki Russland reif für eine bürgerliche Revolution unter bürgerlicher Führung hielten, suchte Lenin nach einem Weg für eine sozialistische Revolution unter proletarischer Führung. Rosa Luxemburg meinte wie die Menschewiki, dass Russland lediglich für eine bürgerliche Revolution reif sei, die aber unter proletarischer Führung stehen müsse, da das russisch-polnische Bürgertum weder fähig noch willens sei, eine Revolution zu führen. Aus dem Gegensatz zwischen Menschewiki und Bolschewiki wurde bald Feindschaft und nach der Eroberung der Macht durch die Bolschewiki Krieg. Der im März 1931 von den Bolschewiki angestrengte sogenannte Menschewiki-Prozess endete mit Todesurteilen. Eine „halbe“ Menschewistin zu sein, bedeutete von da ab mindestens zehn Jahre Gulag: in Kasachstan oder in Sibirien, wo Gefangene sich zu Tode schinden mussten oder schlichtweg ermordet wurden.
Trotz Stalins Verdikt erschien 1951 in der gerade gegründeten DDR eine zweibändige Ausgabe mit Schriften Rosa Luxemburgs. Wilhelm Pieck (1876–1960), damaliger Präsident der DDR und 1919 mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am Tage ihrer Ermordung mit beiden zusammen verhaftet, hatte Stalin diese beiden Bände abgerungen. Bis zur Seite 155 wird mit Texten Piecks, Lenins und Stalins erklärt, warum Rosa Luxemburg Unrecht gehabt habe, danach erst kamen die für die Bolschewiki ungefährlichen Texte Rosa Luxemburgs. Mehr ging im Rahmen der stalinschen Regimes nicht.
Zweiter Anlauf für eine Werkausgabe
Ein wichtiger Ausgangspunkt für einen zweiten Anlauf, die Schriften Rosa Luxemburgs in einer Werkausgabe zu publizieren, war die Verurteilung des Personenkults um Stalin auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahre 1956. Ein weiterer kam von außen: Die 1965 in der Bundesrepublik erschienene Rosa-Luxemburg-Biografie des Historikers Peter Nettl. Süffisant hatte Nettel darauf hingewiesen, dass die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) in jedem Januar Rosa Luxemburg feiere, es aber nicht wage, ihre Werke zu veröffentlichen. Das war eine Steilvorlage für die Reformkräfte im Institut für Marxismus-Leninismus (IML), dem zentralen Forschungsinstitut der SED. Der bevorstehende 100. Geburtstag Rosa Luxemburgs am 5. März 1971 bot die Möglichkeit, mit einer neuen Werkausgabe zu beginnen, und zwar ohne jedwede Kürzungen und Auslassungen. Sogar das Fragment über die russische Revolution konnte erscheinen (Band 4, 1974); in allen anderen Staaten des zusammenbrechenden Ostblocks erschien das Fragment erst nach 1989.
Sieben Bände mit neun Büchern
Ihr deutschsprachiges Werk gilt zusammen mit den russischen und französischen Texten heute als vollständig erschlossen. Es liegt in sieben Bänden vor; davon sind zwei Doppelbände (Band 1 und 7). Sie bilden den Inhalt der „Gesammelten Werke“, die zwischen 1970 und 1975 (Band 1 bis 5) erschienen sind, erarbeitet von einer Arbeitsgruppe unter der Leitung von Günter Radczun (1931–1978) und Annelies Laschitza (1934–2018).
Natürlich ging es auch unter den Bedingungen der DDR nicht ohne Kompromisse ab. Außerdem wurde die Ausgabe auf fünf Bände begrenzt, sei doch Rosa Luxemburg „keine Klassikerin“ (Marx und Engels: ursprünglich 39 Bände; Lenin: ursprünglich 40 Bände; Stalin: 16 Bände, davon 13 veröffentlicht). Diese Vorgabe unterliefen Günter Radczun und Annelies Laschitza, indem sie den ersten Band in zwei umfangreichen Büchern (836 Seiten und 668 Seiten) anlegten, also statt einem zwei Bände produzierten.
Deutschsprachiges Werk komplett erschlossen
Da der Band kurz vor dem 100. Geburtstag von Rosa Luxemburg aus der Druckerei kam und schon international angekündigt worden war, ließ sich seine Auslieferung nicht mehr stoppen. Die Bände 2 bis 4 waren dann – eine Retourkutsche der prostalinistischen Kräfte im SED-Apparat – von deutlich geringerem Umfang. Nur der Band 5 schafft es noch einmal auf fast 800 Seiten, mutmaßlich weil er das ökonomische Werk Luxemburgs mit umfangreichen Buchmanuskripten enthält. Das bekannteste ist ihr Hauptwerk „Die Akkumulation des Kapitals“ von 1913.
Zwei Ergänzungsbände vervollständigen inzwischen das Werk aus den Jahren bis 1906 (Band 6, erschienen 2014, herausgegeben von Annelies Laschitza und Eckhard Müller) bzw. ab 1907 (Band 7, erschienen 2017, ebenfalls herausgegeben von Annelies Laschitza und Eckhard Müller).
Unvollendete Editionsarbeit
Vom Werk Rosa Luxemburgs in polnischer Sprache ist etwa die Hälfte erschlossen und auf Deutsch in Einzelausgaben von Holger Politt veröffentlicht worden. Dieser Teil des Werks ist – bis auf wenige Texte – bisher nicht Bestandteil der „Gesammelten Werke“. Dies wird mit Band 8 nachgeholt.
Bereits in der DDR wurden die Briefe Rosa Luxemburgs (geschrieben auf Polnisch, Russisch, Deutsch und Französisch) von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Annelies Laschitza zusammengestellt, ggf. übersetzt und annotiert in insgesamt fünf Bänden („Gesammelte Briefe“, 1982–1984). Ein Ergänzungsband erschien 1993, ebenfalls herausgegeben von Annelies Laschitza. Aktuell wird an der Erschließung weiterer Briefe aus russischen Archiven gearbeitet.