Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 274

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Diskussionsrede am 5. September 1899 in einer Versammlung des sozialdemokratischen Wahlvereins im 3. Berliner Reichstagswahlkreis zum bevorstehenden Parteitag

Nach einem Zeitungsbericht

Dr. Rosa Luxemburg führt aus, die Theorien dürften keineswegs nur den Wissenschaftlern überlassen bleiben, weil es sich bei diesen Fragen um die eigene Haut der Arbeiter handle. Es gelte, durch die eigene Beschäftigung der Genossen mit diesen Fragen die Partei vor der Versumpfung im Opportunismus zu bewahren. Übrigens seien diese „theoretischen“ Fragen von außerordentlicher praktischer Bedeutung für das Parteileben. Die Rednerin erinnert an die bekannte bayerische Budgetabstimmung,[1] diese Frucht vom Baume Bernsteinscher Theorien, an den Gedanken, Kanonen gegen Volksrechte auszutauschen.[2] Diese Dinge seien für die Partei sehr praktisch und nicht theoretisch.

Auf die von Fritz gestellte Resolution[3] näher eingehend, meint die Rednerin, die Resolution spreche in ihrem ersten Teil etwas aus, womit jeder revolutionäre Sozialdemokrat einverstanden sein könne. Die Frage sei jedoch nicht so zu stellen: Wollen wir die sozialistische Gesellschaft? sondern: auf welchem Wege diese Gesellschaft erreicht werden könne. Bernstein und sein Anhang glauben, man könne sich durch Genossenschaften, langsame Vermehrung demokratischer Einrichtungen und so weiter in die sozialistische Gesellschaft hineinschmuggeln. Richtig sei jedoch, daß die Eroberung der politischen Macht der einzige Weg sei, auf dem die Arbeiterklasse vorwärtskommen könne.

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[1] Erstmals in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie hatte am 1. Juni 1894 im bayerischen Landtag eine sozialdemokratische Fraktion dem Landesbudget zugestimmt.

[2] Gemeint ist die „Kompensationspolitik“ von Wolfgang Heine, der in einer Rede am 10. Februar 1898 im 3. Berliner Reichstagswahlkreis die Auffassung vertreten hatte, die Sozialdemokratie könne der Regierung Militärforderungen bewilligen, wenn dafür „Volksfreiheiten“ gewährt würden. Ein solcher Kompromiß lief auf eine Revision des antimilitaristischen Kampfes der deutschen Sozialdemokratie hinaus.

[3] Die Resolution von Fritz lautete: „Die am 5. September in den ‚Arminhallen‘ tagende Versammlung des 3. Berliner Reichstagswahlkreises erklärt: Die Festhaltung unseres Endziels der sozialistischen Gesellschaft ist für die Arbeiterklasse eine politische Notwendigkeit. Die Freiheit theoretischer Untersuchungen über die zu diesem Ziele einzuschlagenden Wege muß jedem gewahrt bleiben. Die Versammlung entnimmt jedoch aus den zur Zeit gepflogenen Erörterungen keinen Grund, die theoretischen Grundlagen oder die erprobte praktische Stellung der Partei zu ändern.“ Im Bericht nach der Diskussion heißt es: „Nachdem Fritz einige Mißverständnisse seiner Ausführungen auf seiten der Frau Luxemburg richtiggestellt und diese letztere sowie Heine noch einmal ihren Standpunkt vertreten haben, werden die Zusatzanträge der Frau Luxemburg mit großer Majorität abgelehnt und die Resolution Fritz wird angenommen.“