Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 517

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Freiheitskämpfe der Vergangenheit und Gegenwart. Rede am 17. März 1905 im 12. sächsischen Reichstagswahlkreis in Leipzig

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Nach einem Zeitungsbericht

Heute oder vielmehr morgen feiern wir die 57. Wiederkehr der deutschen Revolution, und wir feiern sie mitten in einer Revolution in Rußland. Aber gerade bei der Zusammenstellung der wichtigsten Momente in der vergangenen deutschen Revolution mit der heutigen russischen Revolution können wir uns am besten den Riesenschritt zum Bewußtsein bringen, den die internationale Revolution in der Zwischenzeit gemacht hat. Es besteht zwischen beiden Revolutionen eine merkwürdige Wechselwirkung. Das Zarentum hat 1848 eine verhängnisvolle Rolle gespielt; es war der sicherste Hort der Reaktion, und Karl Marx hat in seiner „Neuen Rheinischen Zeitung“, in der er die damalige Bewegung vom Standpunkt der linksradikalen Demokratie betrachtete, die Forderung des Kriegs mit dem zaristischen Regiment zum Grundton seiner Politik gemacht. Und Marx hatte recht, wenn er das deutsche Bürgertum vor die Alternative stellte: Entweder werdet Ihr Euch die Wiederkehr des Feudalismus gefallen lassen müssen, vielleicht gemildert durch einige bürgerliche Einrichtungen, oder Ihr müßt die Revolution nach Osten tragen. Diese Stimme ist eine Stimme in der Wüste geblieben, nicht nur hat die deutsche Bourgeoisie dem Zarentum keinen Krieg erklärt, nein, schon am Tag nach der Revolution begann in Deutschland eine rücksichtslose Herrschaft der russischen Knute. Dieser Einfluß des Zarentums dauerte solange, daß wir noch in letzter Zeit interessante Blüten erlebt haben, so den Königsberger Prozeß.[2] Dieser Prozeß wird in der künftigen Geschichte der russischen Revolution ein denkwürdiges Moment des Verfalls sein. Freilich nicht nur des russischen, sondern des allgemeinen Verfalls; es hat sich dort ein Stück internationaler Fäulnis und speziell deutscher Fäulnis offenbart. Es war ein Wiederaufleben der heiligen Allianz. Das Ende war, daß der Königsberger Prozeß dazu führte, die scheuß-

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[1] Im Vorspann der Leipziger Volkszeitung wird Rosa Luxemburg als die Rednerin genannt.

[2] Vom 12. bis 25. Juli 1904 fand in Königsberg ein Prozeß gegen neun deutsche Sozialdemokraten statt, die wegen des Transportes illegaler, gegen den Zarismus gerichteter Schriften nach Rußland angeklagt wurden. Karl Liebknecht als einer der Verteidiger entlarvte vor allem die Zusammenarbeit der preußischen und russischen Geheimpolizei. Zusammen mit Hugo Haase, Ernst Fleischmann und weiteren Rechtsanwälten erreichte er, daß das Gericht am 25. Juli 1904 die neun Angeklagten von der Anklage des Hochverrats und der Zarenbeleidigung frei sprechen mußte. Drei Angeklagte wurden wegen „Geheimbündelei“ verurteilt.