Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 549

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Die Straßenschlacht in Łódź

[1]

Der Zarismus, der vor dem japanischen Feind ruhmlos und schmählich zusammenbricht, der noch wehrhafte Festungen ausliefert, gewaltige Panzerkolosse und Heermassen dem Feinde leichten Herzens übergibt,[2] feiert auf den Straßen Rußlands gegen das eigene Volk Triumphe über Triumphe. Die russische Schande gräbt unvertilgbare Spuren in das Angesicht der modernen Zivilisation. Gäbe es noch ein öffentliches Gewissen in der kapitalistischen Gesellschaft, so würde die ruchlose Horde, die vor dem gewappneten Feinde sich verkriecht, die auf blutigen Schlachtfeldern wüste Orgien feiert, die mit Champagner und Dirnen das stürmische Blutmeer niedersinkender Massen überschreit, die im Krieg nur ein Mittel persönlicher Bereicherung sieht, die Spitäler bombardieren und im Reiche des Entsetzens Theater spielen läßt – gäbe es solch Gewissen, so würde diese Camorra der russischen Gewaltherrschaft, die auf die eigenen Landeskinder schießt, von der Kulturwelt exkommuniziert werden, die Schuldigen würden für vogelfrei auf dem ganzen Erdball erklärt werden und sie würden keine Stätte finden, wo sie von ihrem Verbrechen auszuruhen vermöchten. Aber diese Kulturwelt treibt nach wie vor gelassen ihren Schacher mit ihnen, in den blutigen Furchen, die das Verbrechen aufreißt, wird der Rubel mitgeschwemmt, ein allzeit und überall vornehmer und willkommener Gast.

Der Petersburger Blutsonntag[3] hat nur vorübergehend die öffentliche Meinung aufgepeitscht. Die furchtbaren Maitage Warschaus[4] haben nur für Sekunden die Gemüter erweckt. Die Judenmetzeleien, die, fast jede Woche in diesem oder jenem Ort von den Kreaturen des Zaren angestiftet, unzählige Opfer fordern, haben den Kurs der russischen Anleihe nicht um einen Bruchteil erniedrigt. Die Völkerkämpfe, die im Kaukasus vom Zarismus inszeniert werden und die an Entsetzlichkeit alles überstiegen haben, was eine wüste Phantasie erfinden kann, auch über diese Greuel ist die Kulturwelt zur Tagesordnung übergegangen.

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[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Nach Rosa Luxemburgs Brief an Leo Jogiches vom 25. oder 26. Juni 1905 sorgte sie für die Veröffentlichung von Korrespondenzen bzw. Informationen über die Ereignisse von Łódź, siehe GB, Bd. 2, S. 141. In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist der Artikel unter Nr. 348 ausgewiesen.

[2] Gemeint sind die Niederlagen der russischen Truppen im Russisch-Japanischen Krieg, siehe S. 501, Fußnote 2.

[3] Gemeint ist der Beginn der russischen Revolution, als am (9.) 22. Januar 1905 in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift zogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven empfangen, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus.

[4] Siehe S. 526 und 527 f.