Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 600

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Das neue Verfassungsmanifest Nikolaus’ des Letzten

[1]

Der Telegraph bringt aus dem Zarenreiche die Nachricht von einem am gestrigen Tage erschienenen Manifest des Zaren, das eine neue Verfassung in Aussicht stellt.[2] Die famose „Duma“ soll gesetzgebende Kraft, „die Volksklassen, die bis jetzt gar kein Wahlrecht hatten“, sollen ein solches erhalten, die persönliche Unverletzlichkeit, die Gewissens-, Rede-, Vereins- und Versammlungsfreiheit sollen proklamiert werden. Nach Versicherungen bürgerlicher Privatkorrespondenten und russischer offiziöser Telegramme soll die Bevölkerung des Zarenreichs ob dieser großmütigen Zusagen des geliebten Landesvaters an seine „treuen Untertanen“ (so drückt sich nämlich das Manifest des blutigen Nikolaus wahrhaftig aus!) helle Freudentränen vergießen und in lauten Jubel ausbrechen.

Wir sind im Augenblick nicht in der Lage, diese Nachrichten auf ihre Genauigkeit und Zuverlässigkeit zu prüfen. Jedenfalls sind wir geneigt anzunehmen, daß das tönende Verfassungsmanifest des Gefangenen von Peterhof von den aufs äußerste erbitterten und zum äußersten entschlossenen kampfbereiten Volksmassen nicht sowohl mit dankbaren Freudentränen entgegengenommen wird, wie sie einem echt liberalen Gemüte in solcher Stunde als ein natürliches Zubehör zu dem schönen geschichtlichen Schauspiel vorschweben, sondern vielmehr mit jenem dumpfen Schweigen des grollenden Mißtrauens, mit dem auch die kämpfenden Volksmassen in Berlin im Jahre 1848 die „Beruhigungsworte“ vom königlichen Schloß vernahmen: „Der König will…“

Noch ist aus den blutüberströmten Händen des absolutistischen Würgeengels keine Freiheit, sondern erst das Versprechen, noch keine Tat, sondern erst das Wort gekommen. Zum Jubeln und zu Siegesfanfaren ist noch lange kein Grund vorhanden, führte doch noch in allen bisherigen Revolutionen der Weg von liberalen Worten zu liberalen Taten nicht anders als über neue Hekatomben furchtbarer Opfer und weitere verzweiflungsvolle Kämpfe.

Es hieße überhaupt die „Revolution“ von dem vulgären platten Polizeistandpunkt, wie sie eben von der heutigen bürgerlichen Borniertheit meistens begriffen wird, als

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[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Er folgt dem Leitartikel „Unsere Aufgabe“ (siehe GW, Bd. 6, S. 596 ff.) auf der ersten Seite des „Vorwärts“. Rosa Luxemburg verbrieft ihre Verfasserschaft am 1. November 1905 gegenüber Leo Jogiches, siehe GB, Bd. 2, S. 228.

[2] Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben.