Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 601

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eine Reihe äußerer Gesetz- und Polizeiwidrigkeiten auffassen, wollte man annehmen, daß sogar mit der tatsächlichen Gewährung der liberalen Freiheiten und selbst einer wirklichen modernen Verfassung die Revolution in Rußland nunmehr zu Ende wäre.

Die seit Januar sinnenfällige und offene gewaltige Krise im Zarenreiche ist, wie jede bisherige Revolution, vor allem ein innerer sozialer Prozeß, das Entstehen und Werden einer neuen Gesellschaft im Schoße der alten, und die Befreierin Revolution ist auch hier nicht die Mutter, sondern bloß die Geburtshelferin der neuen Gesellschaft. Was der bürgerlich befangene Blick als den einzigen Zweck und Sinn der ganzen Krise vernimmt: die liberale Verfassungsordnung, den modernen „Rechtsstaat“ – das ist lediglich ein äußerer Ausdruck und ein Produkt jener tiefgreifenden sozialen Umwälzung, Umschichtung der Stände-, Klassen- und Parteiverhältnisse, die sich im Schoße des alten zaristischen Rußlands vollziehen. Und deshalb ist die „Gewährung“ der Verfassungsfreiheiten – auch wenn sie, wir wiederholen es, zur Tat geworden –, weit gefehlt der Abschluß der revolutionären Epoche zu sein, vielmehr bloß eine Etappe derselben, die die Konstituierung der neuen Klassen in Parteien, ihr Reifen, ihre Entwicklung, ihre gegenseitige Position und ihren Kampf um die Machtstellung nicht zum Stillstand bringt, sondern umgekehrt erst recht eröffnet. Soll das gestrige Manifest des letzten Zaren aller Reußen zur Wahrheit werden, dann beginnt morgen in Rußland ein neuer Abschnitt der revolutionären Kämpfe – vielleicht von viel längerer Dauer, und wer weiß, ob von geringerer Vehemenz wie der erste –, Kämpfe der Arbeiterklasse mit den frischgebackenen bürgerlichen, agrarischen, liberalen, demokratischen und sonstigen Prätendenten zur politischen Macht und Herrschaft –, Kämpfe um die Befestigung, Aufrechterhaltung, Erweiterung und Ausnutzung der mit so ungeheuren Opfern errungenen Rechte.

Und doch, wir können in gewissem Sinne jubeln! Nicht aus verfrühter kindisch-naiver Siegesfreude im Geiste des Liberalismus, der in jedem noch so zweifelhaften Siege vor allem einen Vorwand zum Ausreißen vom Kampfplatze bejubelt. Nein, wir können jubeln – aus der Erkenntnis des wirklichen Sinnes des jetzigen Moments, auch wenn das gequälte Stammeln der zaristischen Verheißungen vorläufig nicht mehr als ein neuer eitler Versuch des Despotismus wäre, sein verwirktes Dasein noch einmal um eine gestohlene Gnadenfrist zu verlängern. Denn eins besagt dies Manifest mit aller Deutlichkeit, was auch nicht mehr rückgängig gemacht werden kann: Es ist das Grabeslied des früheren Zarenmanifestes, die Totenglocke der famosen „Duma“ mitsamt der ganzen Bulyginschen „Verfassung“![1] Bevor noch die „Wahlen“ zu dem von den frivolen Burschen des Blutregiments ersonnenen Monstrum einer „Volksvertretung“ vorgenommen werden, ist die ganze Farce der „Duma“-Verfassung durch die einmütige Erhebung des städtischen Proletariats im ganzen Zarenreiche von Petersburg bis Odessa, von Warschau und Łódź bis Krasnojarsk zusammengebrochen, weggefegt,

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[1] Am 19. August 1905 hatte die zaristische Regierung ein vom Innenminister Alexander Bulygin verfaßtes Gesetz für die Wahlen zu einer Reichsduma erlassen. Danach war die Duma nur als beratendes Organ vorgesehen, und die Wahlen sollten nach dem Ständeprinzip und nach einem festgelegten Vermögenszensus vollzogen werden. Die Industriearbeiter waren völlig und die Bauern fast gänzlich von den Wahlen ausgeschlossen.