Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 602

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zerstampft, zermalmt, in Nichts verwandelt worden! Dem Volke ist die Qual der langsamen Etappenfahrt, die blutigen Geduldproben eines liberalen Froschmäusekrieges mit dem Absolutismus erspart, der Weg zur wirklichen Freiheit in echt revolutionärer Weise abgekürzt, gereinigt, geöffnet worden.

Und dies ist zweifellos das Werk der klassenbewußten Avantgarde des Proletariats Rußlands, das Werk der Sozialdemokratie!

Genau so wie in der denkwürdigen Januarwoche[1] die plötzliche machtvolle Erhebung des Petersburger und daraufhin des gesamten Proletariats aller Industriestädte des Reiches gerade in dem Moment einsetzte, wo die „liberale“ und „demokratische“ Bankettaktion an ihrer eigenen Unzulänglichkeit und inneren Unsicherheit zu versanden und die Sache der Freiheit gründlich zu verfahren drohte,[2] ebenso hat jetzt das entschlossene Eingreifen der proletarischen Faust mit einem Ruck den Karren vorwärts geschoben, in dem Moment, als der russische Liberalismus und die Demokratie schon wieder bereit waren, über den Strohhalm der „Duma“-Frage zu stolpern und das Werk der Revolution für eine tüchtige Zeitspanne zu Fall zu bringen. Eben bereiteten sich die Semstwo-Mannen[3] und mit ihnen manche andere „demokratische“ Helden vor, trotz Ach und Weh in den sauren Apfel der Bulyginschen „Verfassung“, den sie erst mit Entrüstung von sich wiesen, zu beißen und mit Grazie in die „Wahl“-Aktion zu treten, unter vielen schönen Vertröstungen auf die großartigen liberalen Rededonner, die sie in der „Duma“ – mit verbundenem Maul und unter Ausschluß der Öffentlichkeit! – zum Wohle und Schutze des draußen als Zaungäste gebliebenen Volkes vorbringen wollten. Da erhob sich aber – diesmal unter bewußter und strammer Führung der Sozialdemokratie – die städtische Arbeiterschaft und erklärte: Nein, meine Herren, da wollen wir lieber noch einmal eigenhändig Ordnung schaffen! Und eine Woche intensiver Agitation und großartiger Massenstreiks genügte, damit die ganze Bulyginsche Duma-Herrlichkeit im Staube liegt!…

Zum zweiten Mal in einer grandiosen Erhebung im entscheidenden Moment auf dem Kampfplatze erscheinend,[4] zeigt das industrielle Proletariat Rußlands, daß es, wie im ersten Akt der Revolution, so auch heute und bis zu Ende ihr eigentlicher Träger

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[1] Gemeint ist der Beginn der russischen Revolution, als am (9.) 22. Januar 1905 in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift zogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven empfangen, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus.

[2] Gemeint ist die von August 1904 bis Januar 1905 sich belebende konstitutionelle Bewegung der liberalen Bourgeoisie in Rußland, die unter dem Einfluß der Mißerfolge der zaristischen Regierung im Krieg gegen Japan und der wachsenden Unzufriedenheit der Volksmassen eingesetzt hatte. Während dieser „Semstwo-Kampagne“ war den Semstwo-Vertretungen von den zaristischen Behörden die Durchführung von Beratungen, Versammlungen, Banketten und Kongressen genehmigt worden. Der Innenminister Pjotr Swjatopolk-Mirski hatte eine Politik des Lavierens betrieben. (Semstwo: 1864 im Zuge liberaler Reformen in Rußland eingerichtetes und bis 1917 bestehendes Organ lokaler Selbstverwaltung auf Gouvernements- und Kreisebene. In ihnen waren der Adel, die Städter und die Bauern vertreten.)

[3] Semstwo: 1864 im Zuge liberaler Reformen in Rußland eingerichtetes und bis 1917 bestehendes Organ lokaler Selbstverwaltung auf Gouvernements- und Kreisebene. In ihnen waren der Adel, die Städter und die Bauern vertreten.

[4] Am 24. Oktober 1905 hatte in Moskau und St. Petersburg ein Generalstreik begonnen, der sich schnell über ganz Rußland ausbreitete. Auf dem Höhepunkt beteiligten sich rund zwei Millionen Arbeiter, Studenten, Intellektuelle und Soldaten. Sie forderten den Sturz des Zarismus, Beseitigung der Bulyginschen Duma und eine demokratische Republik, siehe Rosa Luxemburg: Eine neue Epoche der russischen Revolution. In: GW, Bd. 6, S. 567 ff.