Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 133

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Aus Galizien

[1]

Die Schlachtizen machen immer noch die Abrechnung mit ihrem politischen Gewissen aus Anlaß der letzten Bauernrevolten. Worauf es den Herren vor allem ankommt, ist: Was wird Europa dazu sagen? Sie fühlen wohl, daß die Exzesse des Elends und der Unwissenheit kein besonders schmeichelhaftes Zeugnis für den sozialen Wert der dreißigjährigen „polnischen Wirtschaft“ in Galizien sind.[2] Sie haben denn auch glücklich den Schuldigen gefunden, um die Verantwortlichkeit von sich abzuwälzen. Der Wortführer der herrschenden adeligen Reaktion, Graf Tarnowski, hat in vier offenen Briefen im Krakauer „Czas“ (Zeit) schwarz auf weiß bewiesen, daß an den traurigen Vorkommnissen in Galizien die Zentralregierung in Wien die Schuld trage, und zwar dadurch, daß sie die Reaktion der polnischen Schlachta in ihrem freien Spiel hinderte. „Als seit einigen Jahren die Verhetzung der Bauern und der Arbeiter gegen die Reichen gefährliche Dimensionen erreichte“ – schreibt der Graf –, „wollten und versuchten die Gerichte (in Galizien), dem Übel eine Schranke zu setzen. Sie mußten sich aber bald überzeugen, daß sie gegen die Absichten der höchsten Zentralgewalten handelten. Sozialistische Schriften und jene des Pater Stojalowski entfachten gewissenlos den sozialen Haß, die Gerichte machten Prozesse und verurteilten. Aber dann erhielten sie eben vom Ministerium der Justiz den Verweis, daß in Galizien zu viel Presseprozesse vorkommen! Was sollten die Gerichte demgegenüber machen? Keine untergebene Behörde kann auf die Dauer handeln, wenn sie nicht der Unterstützung ihrer Vorgesetzten vergewissert ist. Leute, die aus der Ferne sahen, wie sich die Anarchie verbreitete und die Revolte herannahte, nahmen es manchmal unseren Gerichten übel, daß sie zu wenig und zu schwach der Gefahr entgegenwirkten. Wir glauben, daß nicht die Schwäche unserer Gerichte, sondern die Schwankungen der Zentralregierung die Hauptverantwortlichkeit für die Sünde der Unterlassung tragen.“ Hier decken die galizischen Schlachtizen vollständig ihre Karten auf. Ihnen ist also die Wiener Reaktion noch viel zu wenig reaktionär, und der Schein der konstitutionellen Freiheiten, der jetzt noch in Galizien existiert, verdankt seine Existenz der k. k. Regierung in Wien! …

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[1] Dieser Artikel erschien anonym, laut RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), Nr. 66, ist er nur mit einem ? gekennzeichnet.

[2] Siehe dazu „Ausnahmezustand über Österreich-Galizien“. In: GW, Bd. 1, 1. Halbbd., S. 226 f.