Der Belagerungszustand in Polen
[1]Die Revolution schreitet mit eherner Logik ihren Weg: Jeder neue Gewaltstreich des verendenden Absolutismus wird zum Ausgangspunkt eines neuen gewaltigen Ausbruchs des Kampfes.
Der über Polen verhängte Belagerungszustand ist zur Losung einer Wiederaufnahme des Generalstreiks in Petersburg, dann in Moskau, in ganz Rußland geworden. Nächstens liegt wieder der Koloß, das Zarenreich, gefesselt, ohnmächtig danieder, „der starke Arm“ des revolutionären, klassenbewußten Proletariats erhebt sich zur geballten Faust, der Belagerungszustand in Polen verwandelt sich in einen Belagerungszustand, den die Arbeiterklasse über den Zarismus verhängt.
Diese prächtige Aktion des Petersburger Proletariats ist besonders bemerkenswert als der erste Solidaritätskampf, zu dem von Petersburg aus das Signal gegeben wird. In der bisherigen Periode der Revolution war es gewöhnlich umgekehrt: Die polnische Arbeiterklasse erwiderte jeden Anlauf, den ihre russischen Brüder im Kampfe nahmen, sowie jeden Streich, den die herrschende Gaunerbande gegen sie richtete, mit flammenden Solidaritätskundgebungen. Der 22. Januar[2] wurde zum Signal einer Reihe von Generalstreiks in ganz Russisch-Polen.[3] Der Moskauer Eisenbahnerstreik[4] fand in Polen sofort das lebendigste Echo. Hingegen blieben die grandiosen Maifeiern in Warschau, in Łódź, die blutigen Kämpfe der polnischen Arbeiterklasse[5] bis jetzt ohne tätige Unterstützung, ohne Echo im eigentlichen Rußland. Das lag freilich nicht an dem Mangel an brüderlichen Gefühlen, an tiefster Sympathie, an politischer Einsicht bei dem russischen Proletariat. Es lag vielmehr daran, daß die Proletariermassen in Petersburg und Moskau bis vor kurzem noch nicht mobil, noch nicht diszipliniert genug waren, um auf eine gegebene Parole sich sofort in Kampfordnung zu formie-
[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, er gehört zu den Leitartikeln der Chefredakteurin des „Vorwärts“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. Er befindet sich als Abschrift in den im RGASPI, Moskau, Fonds 209, archivierten Unterlagen für weitere Bände der von Clara Zetkin und Adolf Warski herausgegebenen und von Paul Frölich bearbeiteten „Gesammelten Werken“ Rosa Luxemburgs. In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist er unter Nr. 374 ausgewiesen.
[2] Gemeint ist der Beginn der russischen Revolution, als am (9.) 22. Januar 1905 in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift zogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven empfangen, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus.
[3] Rosa Luxemburg nennt in „In revolutionärer Stunde: Was weiter?“ als Beginn des allgemeinen Streiks den 28. Januar 1905, zu dessen Höhepunkt der Generalstreik der polnischen Arbeiter vom 1. bis 4. Mai 1905 wurde, siehe GW, Bd. 1, 2. Halbbd., S. 554.
[4] Siehe Rosa Luxemburg: Eine neue Epoche der russischen Revolution. In: GW, Bd. 6, S. 567 ff.
[5] Siehe Rosa Luxemburg: Maimetzeleien in Rußland. In: GW, Bd. 6, S. 526; dies.: Blutiger Mai. In: ebenda, S. 527 f.