Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 585

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Der russische Vulkan

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Mehr und mehr bemächtigt sich des herrschenden Klüngels in Rußland das beklemmende Gefühl, daß man sich über dem Krater eines grollenden Vulkans bewegt, der die bebende Decke zwar noch nicht gesprengt hat, dessen furchtbarer Ausbruch aber jeden Augenblick erfolgen kann. Hartnäckig erhält sich das Gerücht, daß der Zar selbst sich mit Fluchtgedanken trage. Seine Yacht soll im Hafen fahrbereit unter Dampf liegen, um den Hauptschuldigen in Sicherheit zu bringen, wenn die Katastrophe hereinbrechen sollte. Die Lage in allen Revolutionszentren hat sich seit gestern noch verschärft. Der Streik ist noch allgemeiner, die Erbitterung noch siedeheißer geworden.

Aus Charkow, wo eine republikanische Regierung proklamiert sein soll, liegt heute gar keine Nachricht vor – das Schweigen kündet offenbar Unheil. Aber auch in Moskau, der zweiten Stadt des Reiches, soll eine revolutionäre Regierung gebildet worden sein. Die Moskauer Fabrikanten haben sich, wohl der Not gehorchend, der Forderung nach den elementaren Volksfreiheiten angeschlossen und sich bereit erklärt, ihre Fabriken den Arbeitern als Versammlungslokale zur Verfügung zu stellen. In Petersburg und Warschau, wo der Generalstreik absolut ist, berät das Volk in Riesenversammlungen über die weiter zu ergreifenden Schritte. Zwar scheint man entschlossen zu sein, bis aufs äußerste die Anwendung der Gewalt zu vermeiden, doch ist man ebenso unerschütterlich entschlossen, die Waffe der Arbeitsruhe mit zähester Rücksichtslosigkeit anzuwenden. Auch scheint man alle Eventualitäten in Betracht zu ziehen, da in Petersburg eine Menge von Revolvern verteilt wird.

In mehreren Städten ist es wieder zu blutigen Zusammenstößen gekommen. So in Reval, wo das Stadttheater in Flammen steht und die bewaffneten Massen die Löscharbeiten der Feuerwehr verhindern.

Der Eisenbahnerstreik hat sich über das europäische Bahnnetz hinweg auch auf die großen asiatischen Linien erstreckt: Die Angestellten der Transbaikalbahn und der Mittelasiatischen Bahn haben sich der Ausstandsbewegung ihrer europäischen Brüder angeschlossen! Ein Beweis, wie allumspannend der Gedanke des revolutionären Kampfes die Massen ergriffen hat!

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[1] Der Artikel erschien anonym, auf Rosa Luxemburgs Autorschaft lassen ihre Briefe an Leo Jogiches vom 29. September 1905, insbesondere die ab 6. Oktober 1905 schließen, siehe GB, Bd. 2, S. 177 und 183 ff.