Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 351

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Sozialdemokratie und Sozialreform. Vortrag am 26. Februar 1902 in einer Volksversammlung in Berlin

[1]

I Nach einem Polizeibericht

Von allen Seiten, von Abgeordneten und Gelehrten, von allen Parteien, sogar dem Zentrum und den Konservativen, werde für den Arbeiter heute gesorgt und ihm anscheinend das größte Wohlwollen gezeigt. Hinter diesem Wohlwollen stecke jedoch, wie es ja jeder Sozialdemokrat weiß, nur das eine Verlangen, die Sozialdemokratie zu vernichten. Der beste Beweis für dieses Vernichtungsbestreben sei das Wesen der bürgerlichen Sozialreform selbst, die ganze Reform sei ein Angstprodukt der Bourgeoisie.

Referentin geht nun auf die Entstehung der sozialen Reformen über. Sie schildert die Arbeiterverhältnisse in England zu Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Die englische Regierung habe zunächst dem Prinzip gehuldigt, sich nicht in das Verhältnis zwischen Kapitalisten und Proletarier zu mischen; beide sollten ihre volle Freiheit haben. Dieses Bestreben zeitigte bereits in den zwanziger Jahren den Untergang der psychischen und moralischen Existenz der arbeitenden Klasse. Die Arbeiterviertel der englischen Industriestädte wurden der Sitz des Elends und der Verderbtheit. Bei Erkenntnis dieser Tatsache trat das Angstgefühl der Regierung zu Tage. Der Arbeiter war ja dazu da, ausgebeutet zu werden, mithin mußte er für den Säckel der Kapitalisten erhalten werden; er war unentbehrlich geworden. So entstanden denn die Arbeiter-Schutzgesetze.

Zu Anfang der vierziger Jahre sehen wir in Frankreich, daß die von Napoleon I. erlassenen Sozialreformgesetze bereits unter dem sozialen Kaisertum Napoleons des Kleinen wieder aufgehoben wurden.[2] Was alsdann in den fünfziger und sechziger

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[1] Am 27. Februar 1902 schrieb Rosa Luxemburg an Leo Jogiches, sie hätte sich zwei Tage nicht gemeldet, weil sie „gestern im 1. [Reichstagswahl]kreis in Cohns Festsälen ein Referat hatte; der Saal war bereits seit 8 Uhr überfüllt, die Hitze unerträglich. Ich sprach über Sozialreform und Sozialdemokratie, wobei ich das Referat wieder etwas geändert habe. Die Leute waren sehr zufrieden, und Waldeck Manasse bemerkte später, daß Klara Z[etkin] aus diesem Referat, das ich in einer Stunde vortrug, zehn Referate zu zwei Stunden gemacht hätte. Es waren eine Menge Polen, Russen, Studenten da, insgesamt, wie es scheint, nur Bourgeoisie, sie kamen mit Operngläsern, wie ins Theater.“ GB, Bd. 1, S. 619. Nach dem Polizeibericht 700 Teilnehmer.

[2] Unter Napoleon I. war 1804 der Code Civil, das Zivilgesetzbuch, angenommen worden. Es entstand ein ganzes System des bürgerlichen Rechts, das durch die in der Zeit von 1804 bis 1810 unter Napoleon I. angenommenen fünf Gesetzbücher (Zivilgesetzbuch, Zivilprozeßordnung, Handelsgesetzbuch, Strafprozeßordnung, Strafgesetzbuch) repräsentiert wurde. Diese Gesetzbücher traten auch in den von Frankreich eroberten Gebieten West- und Südwestdeutschlands in Kraft. In der Rheinprovinz blieben sie auch nach dem Anschluß an Preußen im Jahre 1815 in Kraft. – Siehe außerdem S. 332, Fußnote 4.