Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 775

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Die Revolution in Rußland

[1]

Der Ausstand der Post- und Telegraphenbeamten dauert fort. Zwischen Petersburg und Moskau sind die Telegraphendrähte meist durchschnitten. Alle Bahnhöfe in Petersburg werden von Truppen bewacht. Die Bahnhöfe der meisten Städte sind mit beladenen Güterwagen überfüllt, die infolge des Ausstandes der Arbeiter nicht entladen werden konnten. Die Arbeitslosen verlassen massenhaft die Hauptstadt sowie Moskau und ziehen in die Dörfer, um einer eventuellen Hungersnot zu entgehen. Damit wird selbstverständlich auch die revolutionäre Agitation in verstärktem Maße aufs platte Land getragen. Gleichzeitig droht aber dem Absolutismus der finanzielle Krach.

Die finanzielle Lage der Regierung erregt nämlich in Petersburg, wie der „Times“ von dort gemeldet wird, die ernsteste Besorgnis. Die offiziösen Blätter veröffentlichen in geradezu begeistertem Tone geschriebene Berichte über die reichen Erträge des Branntweinmonopols, dessen Einnahmen für das folgende Jahr auf über eine Milliarde Mark angegeben werden. In Petersburg glaubt man aus diesen Veröffentlichungen die Absicht der Regierung erkennen zu sollen, das Branntweinmonopol an deutsche Banken zu verpfänden. Die Anwesenheit des Prokuristen Fischl vom Berliner Bankhause Mendelssohn wird damit in Verbindung gebracht. Jedenfalls dürften die „glänzenden Einnahmen“ aus dem Branntweinmonopol höchstens aus dem ausgiebigen Konsum der „Schwarzen Hunderte“[2] herrühren, diesen bestreitet aber die Regierung aus eigener Tasche! Was die Arbeiter und Bauern betrifft, so ist gerade mehrmals festgestellt worden, daß ihr Konsum an Branntwein im letzten Revolutionsjahre auffallend zurückgegangen ist. Sollten die deutschen Banken also auf das schöne Geschäft eingehen, dann dürften sie einen glänzenden Reinfall erleben. – Der Priester Gapon[3] soll in Petersburg wieder aufgetaucht sein und, wie das in solchen Fällen gewöhnlich einzutreten pflegt, heute nur zur Verwirrung und zu Reibungen innerhalb der Arbeiterbewegung beitragen.

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. – In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist er unter Nr. 377 verzeichnet.

[2] Die „schwarzen Banden“, „Schwarzen Hundert“, „Schwarzhundertschaften“ waren eine im „Bund des echt russischen Volkes“, nach dessen Spaltung 1908 auch im „Erzengel-Michael-Bund“, verankerte militant nationalistische und antisemitische Bewegung von Monarchisten. Sie agierten als bewaffnete terroristische Banden des zaristischen Regimes, ermordeten Arbeiter, Intellektuelle und zettelten Pogrome an. Sie setzten sich aus reaktionären Elementen des Kleinbürgertums, des Lumpenproletariats und aus Kriminellen zusammen.

[3] Der russisch-orthodoxe Priester Georgi Gapon entstammte einer jüdisch-ukrainischen Bauernfamilie, konvertierte früh zum Christentum und wirkte als Gefängnispfarrer. 1903 hatte er die Versammlung der Russischen Fabrikarbeiter in St. Petersburg ins Leben gerufen, die von der Geheimpolizei Ochrana unterwandert wurde. Dem Demonstrationszug der Petersburger Arbeiter am (9.) 22. Januar 1905 war er mit einer Bittschrift an Zar Nikolaus II. vorangeschritten, der die friedlich Demonstrierenden zusammenschießen ließ.