Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 358

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Politischer Fetischismus

[1]

Eines der genialsten und zugleich schwierigsten Kapitel des Marxschen Kapital ist dasjenige über den „Fetischcharakter der Warenproduktion“.

Der Jakute, der in den nördlichsten bewohnbaren Regionen Sibiriens lebt, fertigt sich selbst seine Götzen, die er dann, je nach dem imaginären Betragen dieser „höheren Wesen“, mit Leckerbissen der jakutischen Küche oder mit unbarmherzigen Prügeln traktiert. Ein „Kulturmensch“ unserer bürgerlichen Gesellschaft schaut natürlich auf den armseligen Tranverzehrer des asiatischen Nordens mit dem ganzen bornierten, selbstgefälligen Dünkel herab, der den Vertretern unserer sogenannten christlichen Gesittung in bezug auf alle anderen Kulturformen so eigen ist. Allein, was die bürgerliche Gesellschaft nicht weiß, das tut sie: Sie fertigt sich – und das hat ihr unser Marx nachgewiesen – auch ihre Fetische, sie betet auch die trivialen Produkte ihrer eigenen Hände an.

Wie viele Sprichwörter besingen nicht die „Allmacht des Geldes“! Und was ist es denn, als ein gemeines Stück Metall, das von Hause aus dazu bestimmt ist, zur Verfertigung von Schüsseln, Krügen und dergleichen ordinärem Hausrat zu dienen, und das nur die sinnwidrige wirtschaftliche Ordnung der Warenproduktion zum allmählichen Vermittler zwischen Mensch und Mensch gestampft hat. Wir lebten an die zehn Jahre in dem schönsten Wetter der Hochkonjunktur, plötzlich kommt ein entferntes Donnergrollen nach dem anderen, und nun hagelt es Krach auf Krach, Not und Elend. „Die Krise! Die Krise!“ ruft bebend die bürgerliche Gesellschaft und starrt mit bleichen Mienen dem Gewitter entgegen, und denkt so wenig wie ein „wilder“ Jakute daran, daß sie selbst mit eigenen Händen, durch die eigene verrückte Produktionsweise das Unwetter entfesselt hat.

Uns von dem kapitalistischen Götzendienst [zu] befreien, vermag nur der weltgeschichtliche Augenblick, wo die Arbeiterklasse das Steuer des gesellschaftlichen Schiffes mit ihrer kräftigen Hand ergreift und die zielbewußte, planmäßige Produktion organisiert. Aber vom politischen Götzendienst, der in der heutigen Gesellschaft nicht

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, sehr wahrscheinlich aber von Rosa Luxemburg. Sie war zu dieser Zeit Mitarbeiterin der Leipziger Volkszeitung. Als Abschrift befindet sich der Artikel in den im RGASPI, Moskau, Fonds 209, archivierten Unterlagen für weitere Bände der von Clara Zetkin und Adolf Warski herausgegebenen und von Paul Frölich bearbeiteten „Gesammelten Werke“ Rosa Luxemburgs.