Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 359

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minder als der wirtschaftliche floriert, kann und muß wenigstens die proletarische Masse sich auf Schritt und Tritt emanzipieren.

Freilich mit der Verabschiedung des absolutistischen Gottesgnadentums ist der Hauptfetisch des alten Olymps entthront worden. Die bürgerliche Demokratie, der Parlamentarismus, haben wenigstens in der inneren Politik die bewußte Einmischung der Gesellschaft in ihren Lebensprozeß bis zu einem gewissen Grade ermöglicht. Zum mindesten der Form nach wird die innere Politik eines parlamentarischen Staates durch „das Volk“ selbst bestimmt. Dagegen im schroffen Widerspruch zu der inneren Demokratisierung des politischen Lebens bewegt sich die auswärtige Politik der heutigen Staaten noch gänzlich in den alten Formen des Absolutismus. Hier besteht kein Unterschied zwischen der orientalischen Despotie Rußlands und dem republikanischen Frankreich, zwischen dem parlamentarischen England und dem halbfeudalen Deutschland. Hier treiben unterschiedslos nach wie vor die alten Fetische hinter dem Rücken der Gesellschaft ihr plumpes Wesen, und die Jakuten der bürgerlichen Presse führen vor ihnen mit unermüdlichem Fanatismus ihre wilden Tänze auf.

Herr Bernhard Bülow trifft sich im schönen Venedig mit Herrn Prinetti, um hinter Schloß und Riegel über die Schicksale Deutschlands und Italiens zu konferieren. Eine geheimnisvolle Wolke umhüllt die beiden Großmächtigen und verdeckt den Blicken der gläubigen Masse ihre Worte und ihre Gesten. Nur dem eifrigen Spürsinn der bürgerlichen Korrespondenten- und Reportermeute gelingt es, einige entfernte, abgerissene Andeutungen aus dem Zwiegespräch aufzufangen und dem Volk zu apportieren.

Herr Danew packt seine Koffer, um nach Petersburg zu reisen, und die Presse beider Völker zerbricht sich den Kopf, um die Wendung zu erraten, die die künftige Verständigung zwischen dem bulgarischen Ministerpräsidenten und den Dienern des Zaren den Schicksalen des Balkanstaates geben wird.

Herr Loubet begibt sich gleichfalls nach der Zarenhauptstadt, um mit dem russischen Alleinherrscher zusammen das republikanische Staatsschiff zu lenken. Das ganze bürgerliche Europa hält den Atem an, um in die großen Geheimnisse besser einzudringen, die da an der Newa verhandelt werden.

Ein „genau unterrichteter“ Reporter drahtet die Indiskretionen des Hotelportiers von Venedig nach London, und via New York wird die Welt erfahren, was der Leibcoiffeur des französischen Präsidenten dem Hofzeremonienmeister des Zaren ausplaudern wird. Aber nicht das ist das Lächerliche, daß die Völker aus dem Hintertreppengeflüster politischer Kammerjungfern ihre Schicksale enträtseln sollen. Das eigentlich Groteske liegt in dem Umstand, den die bürgerlichen Götzendiener gar nicht einmal ahnen, und der darin besteht, daß die Großmögenden, deren Worte und Gesten sie belauschen, selbst von dem großen Sturmgang der Ereignisse, die sie zu schaffen vermeinen, nicht die blasseste Ahnung haben. Was hinter den diplomatischen Wolken vorgeht, sind bloß armselige Bewegungen hölzerner Puppen, die der

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