Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 819

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Die Revolution in Rußland

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Trotz Militärrevolten, Beamtenaufruhr, trotz Bauernerhebung und Arbeiterkampf beharrt die zaristische Kamarilla hartnäckig in ihrer provozierenden Haltung und rafft sich zu einem letzten verzweifelten Versuch auf, sich gegen das gesamte arbeitende Volk, gegen eigene Beamten, eigenes Militär, mit bloßer Hilfe der Anarchie, der „Schwarzen Banden“[2] am Ruder zu erhalten. Die Durnowo[3] und Konsorten rechnen auf die Ermüdung der Gesellschaft, auf die Erschöpfung der Revolution. Sie hoffen, die noch stupide Masse sowie die bürgerliche Geschäftswelt gegen die „Störenfriede“ aufzuhetzen. Schon drohen sie offen mit der Aufwiegelung von Mordbanden gegen die streikenden Post- und Telegraphenbeamten! Die revolutionäre Erhebung der Proletarier und der Bauern in Livland versuchen sie der russischen Gesellschaft als eine nationale Erhebung behufs Lostrennung vom Reiche zu denunzieren, um die „patriotischen Instinkte“ gegen die sozialdemokratische Arbeiterschaft von Riga und Kowno und das mit ihr solidarische Bauerntum aufzustacheln. Und schließlich halten sie den Moment für gekommen, um einen offenen Gewaltstreich gegen die Pressefreiheit und gegen die organisierte Arbeiterschaft zu wagen. Die Verhaftung des Rates der Arbeiterdelegierten in Petersburg sowie die Sistierung einer langen Reihe von Blättern sind eine direkte Provokation an die Revolutionäre. Die Regierung glaubt, daß die Arbeiter zu einem Massenstreik im Augenblick noch nicht vorbereitet seien und will sie deshalb durch brutale Provokationen zu vorzeitigem Losschlagen zwingen. Der Ernst der Situation ist unverkennbar. Freilich kann der Ausgang des Kampfes nicht mehr zweifelhaft sein. Auf das Lumpenproletariat als die einzige „Klasse“ gestützt, in offener Auflehnung gegen die Arbeiterklasse hat noch nie eine Regierung existieren können. Allein der freche und blinde Übermut der Konterrevolution wird den Kampf noch sehr in die Länge ziehen und ihm die schärfsten und blutigsten Formen aufzwingen. Der Absolutismus will eher das ganze Reich in einem furchtbaren Chaos in Trümmer gehen lassen, als selbst abdanken. Die Anarchisten des Absolutismus werden schließlich doch vor der planmäßigen revolutionären Aktion der Sozialdemokratie weichen müssen! –

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. – In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist er unter Nr. 377 verzeichnet.

[2] Die „schwarzen Banden“, „Schwarzen Hundert“, „Schwarzhundertschaften“ waren eine im „Bund des echt russischen Volkes“, nach dessen Spaltung 1908 auch im „Erzengel-Michael-Bund“, verankerte militant nationalistische und antisemitische Bewegung von Monarchisten. Sie agierten als bewaffnete terroristische Banden des zaristischen Regimes, ermordeten Arbeiter, Intellektuelle und zettelten Pogrome an. Sie setzten sich aus reaktionären Elementen des Kleinbürgertums, des Lumpenproletariats und aus Kriminellen zusammen.

[3] Pjotr Durnowo war vom 30. Oktober 1905 bis 22. April 1906 Innenminister.