Der politische Massenstreik. Referat am 14. November 1905 im Sozialdemokratischen Verein für den II. Hamburger Wahlkreis
I Nach einem Zeitungsbericht
Eine eigentümliche Erscheinung im Parteileben ist jetzt zu beobachten: das Interesse für den politischen Massenstreik. Das Problem an sich ist ja nicht neu; in romanischen Ländern besonders, nach 1890 aber auch bei uns, hat man sich viel mit dem Massenstreik beschäftigt, doch bis vor wenigen Monaten wies die deutsche Sozialdemokratie den Massenstreik als Kampfmittel rundweg ab. Jetzt aber ist ein plötzlicher Umschwung eingetreten, und unsere höchste Instanz, der Parteitag, hat in Jena dazu Stellung genommen.[1] Es ist mit dem Begriff Massenstreik gerade wie mit dem Wort „Revolution“; plötzlich brach in Rußland, ganz unvorhergesehen von der Masse, eine wirkliche Revolution aus, und zu Tage trat die Macht der Tatsachen gegen die Ruhe, die seit langem immer und immer wieder gepredigt wurde. Und daß sich nun in Deutschland ein so großes Interesse an dem Problem des Massenstreiks zeigt, das beweist den sicheren Instinkt der Arbeiterklasse, die das Kommen eines gewaltigen Konflikts ahnt und sich darauf vorbereiten will. Dem kann man nicht, wie der Kölner Gewerkschaftskongreß es wollte, durch eine Resolution entgegentreten.[2] Die Masse, die klassenbewußte Arbeiterklasse, geht in ihrem sicheren Instinkt über die Anschauungen ihrer sogenannten Führer hinweg. Die deutsche Sozialdemokratie steht ja heute noch an der Spitze der internationalen Sozialdemokratie; aber unsere Partei ist eben groß geworden auf dem Boden der parlamentarischen Tätigkeit. Aber wir müssen nun erleben, daß da und dort unter unseren Füßen der Parlamentarismus wie eine dünne Eisschicht zusammenbricht. Und gerade in der stolzen Hanserepublik Hamburg müssen wir das erleben. Allerdings hat schon Ludwig Börne Ende der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gesagt, daß der durchaus monarchistische Bundesrat
[1] Der Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Jena fand vom 17. bis 23. September 1905 statt. Die Resolution „Der politische Massenstreik und die Sozialdemokratie“ erklärte, daß es namentlich im Falle eines Anschlages auf das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht oder das Koalitionsrecht die Pflicht der gesamten Arbeiterklasse ist, jedes geeignet erscheinende Mittel zur Abwehr nachdrücklich anzuwenden. Als eines der wirksamsten Kampfmittel, um ein solches politisches Verbrechen an der Arbeiterklasse abzuwehren oder um sich ein wichtiges Grundrecht für ihre Befreiung zu erobern, betrachtet gegebenenfalls der Parteitag „die umfassendste Anwendung der Massenarbeitseinstellung“. Parteitagsprotokoll Jena 1905, S. 143.
[2] Der fünfte Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands fand in Köln vom 22. bis 27. Mai 1905 statt. In seiner Resolution heißt es: „Den Generalstreik, wie er von Anarchisten und Leuten ohne jegliche Erfahrung auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Kampfes vertreten wird, hält der Kongreß für undiskutabel; er warnt die Arbeiterschaft, sich durch die Aufnahme und Verbreitung solcher Ideen von der täglichen Kleinarbeit zur Stärkung der Arbeiterorganisationen abhalten zu lassen.“ Kongreßprotokoll, Berlin o. J., S. 30.