Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 765

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Die Revolution in Rußland

[1]

Der Generalstreik der Post- und Telegraphenbeamten dauert aufs beste fort! Direkte telegraphische Meldungen aus Rußland liegen denn auch fast gar nicht vor. Nur durch Privatbriefe gelangen einige spärliche Nachrichten nach dem Auslande. So bringt die „Vossische Zeitung“ den folgenden ihr aus Riga zugeschickten, vom 3. Dezember datierten Brief: Der Ausstand der Post- und Telegraphenbeamten dauert an. Die Lage hat sich eher verschärft als gemildert. Die Beamten sind sehr erregt darüber, daß Graf Witte[2] den Empfang einer Abordnung ihres Verbandes abgelehnt und sie an ihre nächsten Vorgesetzten gewiesen hat. Auch unter den Eisenbahnern gärt es stark. Sie sind durch die Anweisung von 15000000 Rbl zur Aufbesserung ihrer Gehälter nicht befriedigt und bringen wiederum politische Forderungen vor. Wie verlautet haben sie an den Grafen Witte in sehr bestimmtem Ton gehaltene Telegramme gesandt, in denen sie die Einberufung einer Konstituierenden Versammlung fordern. Gegenwärtig wird mit der Eisenbahn ein Privatpostverkehr durch Boten aufrechterhalten, doch sind diese Boten persönlich bedroht. Auf den Bahnhöfen werden die Abfahrenden von ganzen Scharen von Postbeamten beobachtet. Personen mit Briefbündeln werden von Postbeamten angehalten und unter Drohungen am Betreten des Bahnhofes verhindert. Es gelingt trotzdem, Briefe durchzuschmuggeln.

Wie empfindlich die Wirkung der Streiks der Post- und Telegraphenangestellten für das Zarenreich ist, schildert eine Privatkorrespondenz des „Lok[al]-Anz[eigers]“ aus Petersburg vom 3. d. M.: Enorm sind die Verluste, welche der Staat durch diesen Streik erleidet. Allein Petersburg empfängt durchschnittlich täglich zirka 280000 Pakete aus dem Innern. Die Gesamtzahl der Briefe, Geld- und Wertpakete, Transferte, Postpakete und Kreuzbänder, welche die hiesigen Postämter täglich abzufertigen haben, wird auf 530000 Stück berechnet; wenn man auch noch den Verlust für die Telegramme hinzurechnet, die täglich zirka 13000 Stück betragen, so verliert die Post allein in Petersburg täglich mindestens eine halbe Million Rubel durch den Streik. Die ausständigen Post- und Telegraphenbeamten hielten am Sonnabend eine Versammlung zur Aussprache über ihre Lage ab; 2000 Mitglieder nahmen daran teil. Es

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. – In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist er unter Nr. 377 ausgewiesen.

[2] Graf Witte war von 1892 bis 1903 Finanzminister und von Oktober 1905 bis April 1906 Ministerpräsident Rußlands. Er war Monarchist, aber zeitweilig zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit. Letzten Endes war er maßgeblich an der Unterdrückung der Revolution beteiligt.