Die Revolution in Rußland
[1]Der Generalstreik der Post- und Telegraphenbeamten dauert an. Die Aufhebung des Kriegszustandes in Polen, die den naheliegenden Zweck hatte, wenigstens die Post- und Telegraphenangestellten in Polen zur Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit zu bewegen und so die Verbindung mit dem Ausland wiederherzustellen, hat einstweilen vollkommen versagt. Die Solidarität der Beamten im ganzen Reiche hält stand allen Manövern und Drohungen der Regierung. Auch die Beamten der Post und der Telegraphen in Finnland halten fest zur gemeinsamen Sache, was besonders erfreulich ist. Entgegen den Versicherungen der deutschen Blätter – wiederum sind die liberalen voran –, daß der Poststreik bereits vor zwei Tagen „im Abflauen“ ist, müssen dieselben Blätter heute mit betrübter Miene das direkte Gegenteil ihren Lesern melden. Der Streik dehnt sich umgekehrt immer mehr aus, da nunmehr auch die Bahntelegraphisten in die Bewegung einzutreten sich anschicken. Zugleich wird in Petersburg und in anderen Städten ein neuer Ausbruch des Generalstreiks unter den Industriearbeitern erwartet. Und schließlich vergeht jetzt förmlich kein Tag ohne neue Meldungen über die Rebellion im Heere. Die revolutionäre Gärung ist nun sogar in die Kreise der militärischen „Aristokratie“, in die Leibgarderegimenter gedrungen. In der nächsten persönlichen Umgebung des letzten Zaren, im Peterhof, in Zarskoe Selo ist offene Revolte ausgebrochen.
Eine auf Umwegen gekommene vom Wolffschen [Telegraphischen] Büro übermittelte Privatmeldung aus Petersburg vom 2. Dezember schildert die Lage wie folgt: Der Kabeldienst mit Dänemark ist eingestellt, auch der Telegraphenverkehr mit Finnland unterbrochen. Die Telegraphenbeamten der Eisenbahnen weigern sich, Regierungs- sowie Privattelegramme zu befördern, erklären sich dagegen bereit, zunächst noch die auf den Zugverkehr bezüglichen Telegramme abzufertigen. Falls die Telegraphenbeamten der Eisenbahnen diesen Dienst einstellen, was stündlich erwartet wird, muß der Zugverkehr eingestellt werden. – Die gesamte fortschrittliche Presse fordert den Rücktritt des Ministers des Innern, Durnowo,[2] der für die Zuspitzung der Lage verantwortlich gemacht wird. Allgemein heißt es, daß für die nächsten Tage
[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. – In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist er unter Nr. 377 ausgewiesen.
[2] Pjotr Durnowo war vom 30. Oktober 1905 bis 22. April 1906 Innenminister.