Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 811

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Die Wahrheit über Sewastopol

[1]

Wir erhalten über die in den offiziösen russischen Telegrammen und in der deutschen bürgerlichen Presse in ganz falschem Lichte dargestellte grandiose Marine-Erhebung in Sewastopol[2] den folgenden genauen Bericht von unserem dortigen Privatkorrespondenten.

Sewastopol, den 30. November 1905.

Ich will im Nachstehenden ein kurzes Bild der folgenschweren Ereignisse geben, die sich hier während der letzten Zeit abgespielt haben.

Am Tage nach dem „Freiheitsmanifest“[3], am 31. Oktober, versammelte sich hier eine zehntausendköpfige Menge zu einem grandiosen Meeting und zog alsdann zum Gefängnis, um die politischen Gefangenen zu befreien. Das im Gefängnis versteckt gehaltene Militär gab auf die Menge Feuer, tötete acht und verwundete etwa 20 Personen.

Nach zwei Tagen fand eine demonstrative Beerdigung der Gefallenen statt, an der sämtliche revolutionäre Organisationen teilnahmen. An den offenen Gräbern wurden Reden gehalten. Eine der besten Reden war die des Kapitäns 2. Ranges Peter Schmidt[4], der daraufhin auf Befehl des Hauptkommandierenden der Schwarzmeerflotte, des Admirals Tschuchnin, verhaftet wurde.

In den folgenden vier Wochen fanden an den Sonntagen am Seeboulevard Volksmeetings statt, in denen dem Volke die nächsten Forderungen der revolutionären Parteien erläutert wurden. Admiral Tschuchnin hatte den Matrosen und Soldaten strengstens verboten, an diesen Meetings teilzunehmen und zu diesem Zweck an den Eingängen zum Boulevard Patrouillen postiert. Die Matrosen und Soldaten, erbittert durch diesen Befehl, organisierten nun Meetings in den Kasernen und auf den in Sewastopol stationierten Kriegsschiffen, auf welchen die hiesigen Sozialdemokraten eine energische Agitation entwickelten. Schmidt, der nach zwei Wochen aus der Haft entlassen worden war, war nun durch die Ereignisse in den Vordergrund geschoben worden und nahm an der weiteren Entwicklung derselben den regsten Anteil.

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[1] Dieser Beitrag ist nicht gezeichnet. Er erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“, in der sie am selben Tag auf ihn verweist. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. Das ergäbe etwa 350 M im Monat. GB, Bd. 2, S. 228 und 235.

[2] Siehe Rosa Luxemburg: Die Revolution in Rußland [und die folgenden Artikel]. In: GW, Bd. 6, S. 728 bis 769 und 808.

[3] Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben.

[4] Siehe dazu Rosa Luxemburg: Leutnant Schmidt. In: GW, Bd. 6, S. 748 ff.; dies.: Die Revolution in Rußland. In: GW, Bd. 6, S. 786; dies.: Die Wahrheit über Sewastopol. In: ebenda, S. 811 ff.