Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 641

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Ein konservativer General als „Revolutionär“

[1]

Das Jahr 1905 ist ein wunderbares Jahr. Es hat die Welt wie umgewandelt. Wo es früher vieler Jahre bedurfte, um die Beziehungen der Staaten und Völker von Grund aus umzugestalten, das ist ihm mit einem Schlage gelungen.

Der Friede zwischen Rußland und Japan,[2] ein Ereignis, das in früherer Zeit die Beziehungen zu den nicht beteiligten Staaten kaum berührt hätte, hat eine revolutionäre Wirkung hervorgerufen, die das Angesicht der Welt veränderte. Im Fernen Osten ist Rußland – dessen Selbstherrscher noch vor wenigen Jahren als Admiral des Stillen Ozeans antelegraphiert wurde[3] – von der politischen Bildfläche verschwunden. Es hat seinen Platz an seinen Besieger Japan abtreten müssen, das nunmehr die Vormacht für ganz Asien geworden ist, gestärkt durch den Bündnisvertrag mit England, der den beiden die See-, Land- und Handelsherrschaft im Osten auf unabsehbare Zeit garantiert.

Der Friede von Portsmouth hat aber auch seine Wellen nach Europa geschleudert und alle alten Beziehungen aus den Fugen getrieben. Der Dreibund, jahrzehntelang das Schutz- und Trutzbündnis zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien,[4] das als die sicherste Gewähr für den europäischen Frieden erschien, steht nur noch auf dem Papier.

Sollte es das Unglück wollen, daß morgen oder übermorgen zwischen Deutschland auf der einen und Frankreich und England auf der anderen Seite ein Krieg ausbräche – was ja, seit die deutsche Politik die Marokkofrage[5] so gründlich verfahren

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[1] Der Artikel erschien anonym, er gehört zu den Leitartikeln der Chefredakteurin des „Vorwärts“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. Das ergäbe etwa 350 M im Monat. GB, Bd. 2, S. 228 und 235. Er befindet sich auch in den Korrekturfahnen für einen Band „Nationale Kämpfe“ (siehe Bibliothek des Deutschen Historischen Museums und in der SAPMO-BArch, NY 4002/82 in Berlin), der 1931/32 von Clara Zetkin und Adolf Warski im Rahmen der „Gesammelten Werke“ Rosa Luxemburgs zur Herausgabe vorbereitet wurde. Der Band ist nicht erschienen.

[2] Der Russisch-Japanische Krieg 1904 bis 1905 endete im September 1905 mit einer Niederlage Rußlands. Der Friedensvertrag von Portsmouth vom 5. September 1905 sicherte Japan die im Krieg errungene Vormachtstellung in Korea und in der südlichen Mandschurei. Für die Vermittlung des Friedens stellte sich die USA zur Verfügung und erreichte in den Verhandlungen die Anerkennung ihres Besitzes der Philippinen.

[3] Zeitungsmeldungen zufolge hatte Wilhelm II. im Sommer 1902, nach einem Besuch des Zaren in Reval, an Nikolaus II. ein Telegramm gesandt, in dem es hieß: „Der Admiral des Atlantischen Ozeans dem Admiral des Stillen Ozeans.“

[4] Gemeint sind die militärischen Bündnisse zwischen den europäischen Mächten zu kolonial- bzw. weltpolitischen Zwecken, der französisch-russische Zweiverband von 1892, der Dreibund zwischen Deutschland, Österreich und Italien seit 1882/83; und 1904 entstand schließlich zwischen Großbritannien und Frankreich die Entente cordiale, die sich 1907 mit Rußland zur Tripelentente erweiterte.

[5] Wilhelm II. war am 31. März 1905 in Tanger gelandet und hatte für Deutschland Konzessionen zur Ausbeutung der Bodenschätze Marokkos gefordert. Dadurch sollte verhindert werden, daß Frankreich, das diese Rechte für sich beanspruchte, seine Positionen in Marokko verstärkte. Diese Provokation beschwor eine Krise in den internationalen Beziehungen herauf, die 1906 mit einer fast völligen Isolierung Deutschlands endete.