Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 567

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Eine neue Epoche der russischen Revolution

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Es scheint in der Tat, als ob eine neue Epoche der revolutionären Bewegung in Rußland angebrochen sei. Wenn die höfische und bürokratische Kamarilla gehofft hatte, daß nach der Beendigung des fluchwürdigen Krieges in Ostasien,[2] dessen frivole Anzettelung durch die Revolution beantwortet wurden war, die Masse des russischen Volkes wieder in den Zustand der Lethargie zurücksinken würde, so hat sie sich bitter getäuscht. Der schmähliche Zusammenbruch des Zarismus in Ostasien hat im Gegenteil die Erbitterung des Volkes gesteigert und die revolutionäre Tatkraft zu energischerer Betätigung entflammt. Die entsetzlichen Aderlasse, die die zaristische Soldateska an dem Volke vorgenommen hat, haben nur neuen Haß, neuen Ingrimm gesät. Und die Bewegung, die vielfach sporadisch, ohne Zusammenhang, ohne klare politische Erkenntnis bald hier, bald da aufgeflackert war, hat dank der rastlosen politischen Aufklärung, die namentlich durch die sozialistische Agitation verbreitet worden ist, an Zusammenhang, Organisation und politischer Einsicht außerordentlich gewonnen. So schwer auch die Massen der Industriearbeiter unter den zahllosen Ausständen, Aussperrungen und Massaker zu leiden hatten: Ihre Kampfesenergie ist, das zeigen die Vorgänge der letzten Zeit und namentlich dieser letzten Tage, nicht nur nicht gebrochen, sondern im Gegenteil durch all die opferreichen Kämpfe nur gestählt worden. Wenn wir die Anzeichen richtig deuten, rüstet sich das russische Proletariat zu entscheidenderen Kämpfen, als sie bisher je geführt worden sind. Ein universeller Ausstand droht dem ganzen Staatsorganismus, der ohnehin in allen Fugen kracht, zu erschüttern. Und die Pioniere dieses Kampfes sind diesmal die Eisenbahnangestellten,[3] die bereits an vielen Orten, darunter den wichtigsten des Reiches, in den Generalstreik eingetreten sind. Was als das Erfreulichste an diesem Kampfe ist, ist die anscheinend so große politische Klarheit und Energie, mit denen der Kampf um die Erringung politischer Freiheiten geführt wird.

Bevor die Eisenbahner zum äußersten, zur Stilllegung des Verkehrs schritten, wandten sie sich erst noch einmal an den Verkehrsminister Fürsten Chilkow und den Pr

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[1] Der Artikel erschien anonym, ist aber sehr wahrscheinlich von Rosa Luxemburg. Noch bevor sie Chefredakteurin des „Vorwärts“ wurde, erwartete August Bebel, wie sie am 29. September 1905 an Leo Jogiches schrieb, „daß sie regelmäßig (zweimal im Monat oder in der Woche) einen Artikel für den ‚Vorwärts‘ schreibe“. GB, Bd. 2, S. 177. – In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist er unter Nr. 356 ausgewiesen.

[2] Siehe S. 501, Fußnote 2.

[3] Siehe dazu S. 574 ff. und 579 ff.