Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 862

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Die Revolution in Rußland

[1]

Die Kämpfe in Moskau

dauern in unerhörter Erbitterung fort. Nach den letzten Nachrichten ist es den Truppen noch keineswegs gelungen, die heldenmütig kämpfenden Revolutionäre niederzuwerfen. Es scheint sogar fraglich, ob die Regierung des Aufstandes überhaupt Herr werden wird. Nach dem eigenen Zugeständnis der Regierungsterroristen verüben die Kosaken ungeheuerliche Bestialitäten.

Die Meldungen lauten: London, 27. Dezember. (Meldung des „Tag“ [Den].) Über Petersburg wird telegraphiert: Der Kampf der Revolutionäre in Moskau dauert mit unverminderter Energie fort. Außer Kosaken und Polizei wurde heute auch Infanterie gegen sie verwendet. Sie bestehen aus etwa 60000 Studenten, Arbeitern, Handwerkern und Beschäftigungslosen und besitzen sechs Maschinengeschütze der neuesten Konstruktion. Sie kämpfen in drei Abteilungen und die Frauen zeichnen sich durch besondere Kühnheit aus. Heute sind die Kämpfe außerordentlich schwer. Zwischen Petersburg und Moskau soll eine Funkentelegraphie eingerichtet werden. Die Regierung hofft den Aufstand in drei Tagen zu unterdrücken. Die gesamte Ural-Bahn ist in den Händen der Aufständischen.

Moskau, 27. Dezember. (W.T.B.)[2] Die Front der revolutionären Miliz erstreckt sich vom Kasanbahnhofe in einer Länge von etwa zehn Kilometer. Durch die große Ausdehnung der von Barrikaden eingenommenen Rayons wird den Regierungstruppen das Vorgehen erschwert. Gegen die Aufständischen, die bereits den vierten Tag die Stadt im Belagerungszustand halten, war bis in die ersten Nachmittagsstunden Artillerie in Tätigkeit. Fortgesetzt entstehen Barrikaden an neuen Punkten und umschließen die Stadt. Im Alexandergarten im Kreml tauchten plötzlich Revolutionäre auf und wechselten Schüsse mit den Soldaten, wobei zwei Soldaten und drei Revolutionäre fielen. Von den Bahnen des Moskauer Eisenbahnknotens arbeitet nur die Nikolausbahn.

Petersburg, 28. Dezember. (Meldung des „Tag“.) Das Semjonowsche Leibgarde-Regiment, das nach Moskau abging, steht unter General Stackelberg, der auch wichtige Befehle an den dortigen Generalgouverneur Admiral Dubasow mitnahm. Das Semjonowsche Regiment führt auf drei Tage Proviant mit, ferner 195000 Patronen.

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[1] Dieser Beitrag ist der letzte in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. Er stützt sich auf Meldungen bis zum 28. Dezember 1905, an dem sie die Fahrt nach Warschau antrat, um dort an der Revolution teilzunehmen. Siehe GB, Bd. 2, S. 239. – Annelies Laschitza: Im Lebensrausch, trotz alledem. Rosa Luxemburg. Eine Biographie, Berlin 2009, S. 237 f.

[2] Wolffs Telegraphisches Büro.