Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 168

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Zur Dreyfus-Angelegenheit

[1]

Welches die Haltung des Präsidenten Faure zu der Dreyfus-Affäre[2] in Wahrheit ist, ist einstweilen schwer zu enträtseln. Einerseits hat das Gerücht viel Wahrscheinlichkeit, daß Faure mit Zurlinden die Ablehnung der Revision von Anfang an abgekartet hatte und den Kriegsminister nur zum Schein die Komödie der Prüfung des Dossiers vornehmen ließ. Anderseits versichert man, daß Faure umgekehrt, nur um den Schein vor den Augen der antisemitischen Clique, die ihm das Messer des persönlichen Skandals (wegen der Affäre seines Schwiegervaters) am Halse hält, zu wahren, die Ablehnung des Kriegsministers herbeigeführt hat, um dann, wenn die Revision zustande kommt, von sich die Verantwortlichkeit abzulehnen. Wie dem auch sei, durch oder gegen Faure wird die Revision zustande kommen. Und falls der Präsident im Ernst das Volk vor eine Wahl zwischen seiner Person oder der Revision zu stellen gedenkt, so ist er im Voraus der Niederlage sicher. Schon in der nächsten Zeit stehen wieder drei Gerichtsverhandlungen in Sicht, die viel neues Licht auf die Sache werfen müssen; das ist vor allem am 21. d. M. der Prozeß gegen Picquart wegen seines bekannten Briefes nach der Kammerrede Cavaignacs, dann der Prozeß Zola vor den Geschworenen, endlich der Prozeß Picquarts gegen den „l’Eclair“. Daß die Ergebnisse dieser Verhandlungen der Sache der Revision neuen und vielfachen Anstoß geben werden, unterliegt keinem Zweifel. – Der Zusammentritt der Deputiertenkammer zum Zwecke der Verhinderung der Revision wird bis jetzt von ganzen 18 Deputierten gefordert, und zwar sind darunter: sechs Antisemiten, fünf Nationalisten, zwei Royalisten, ein Bonapartist, ein Rallié, zwei Opportunisten – eine kleine, aber nette Gesellschaft. – Jaurès hat seine Darlegung der Dreyfus-Sache und ihrer Kulissenseite wieder in der „Petite République“ aufgenommen.

Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden),

Nr. 217 vom 18. September 1898.

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[1] Diese Notiz ist mit II, einem von Rosa Luxemburgs Zeichen, versehen. An Leo Jogiches hatte Rosa Luxemburg am 10. Juli 1898 geschrieben: „Mit Parvus [Redakteur der SAZ] habe ich die Beziehungen aufs beste hergestellt: Ich schreibe solche Notizen für ihn, wie Du sie dort hast, über Polen, Frankreich und Belgien. Sie geben mir 30 M im Quartal für das Zeitschriftenabonnement! Natürlich neben dem Honorar.“ Bei Gelegenheit wünsche er solche Notizen auch über England, Italien und die Türkei. Siehe GB, Bd. 1, S. 171.

[2] Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten um Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an.