Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 788

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Die Revolutionstage in Moskau

[1]

Wenn künftige Geschichtsschreiber der großen russischen Revolution über die Ereignisse der Oktobertage berichten werden, die einen Markstein der Revolution bilden, werden sie in erster Reihe der Moskauer Geschehnisse Erwähnung tun müssen. Durch sein Solidaritätsgefühl, seine politische Reife, seine kolossale Macht, seine Heldentaten, die allen Greueln und Schachzügen der Konterrevolution standhalten, hat das revolutionäre Proletariat Rußlands die ganze Welt in Erstaunen gesetzt. In diesem Kampfe der denkwürdigen Oktoberwochen aber gebührt die Palme des Ruhmes vor allem dem Moskauer Proletariat! In Moskau, in dem alten „Mütterchen Moskau“, das als der Hort der orthodoxen Reaktion galt, gab es keine Verbrennung der Vertreter der Intelligenz, wie in Tomsk und Twer, keine Orgien der „Schwarzen Hundert“,[2] keine Judenmetzeleien. Und gerade durch die mächtige Organisation und die politische Aufklärung des Moskauer Proletariats ist das Mißlingen der von der russischen Regierung und den schwarzen Banden vorgenommenen Versuche zu erklären. Es ist unmöglich, die Oktober-Ereignisse in Moskau kurz zusammenzufassen, sie sind zu gewaltig, um sich in den Rahmen eines Zeitungsartikels hineinpressen zu lassen. Wir wollen daher nur einen kurzen Überblick geben und nur einige ergreifende Momente dieses Titanenkampfes herausgreifen, wie sie uns von einem Teilnehmer geschildert werden.

Als am 9. Oktober jener Streik aller Eisenbahnbeamten und Arbeiter des Moskauer Eisenbahnbezirks begann, der für einen noch nie dagewesenen Generalstreik zum Signal wurde, konnte niemand, selbst nicht die Genossen des Moskauer Komitees ahnen, daß dieser Streik eine Situation erzeugen würde, die mit blitzartiger Schnelligkeit zur Katastrophe der absolutistischen Staatsordnung und der Verkündung der Konstitution führen würde, d. h. zu allem dem, was seit mehr als einem Jahrhundert die russische Intelligenz und das russische Proletariat und alle jene Freiheitskämpfer, die den Tod am Galgen, in den Gefängnissen und in der sibirischen „Tundra“ und „Taiga“ fanden, erstrebten. Man glaubte, daß der Streik sich wohl zwei,

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[1] Dieser Beitrag ist nicht gezeichnet, stammt aber wahrscheinlich von Rosa Luxemburg. Im Inhalt, in der Diktion und in der Verwendung von Zeugenberichten ähnelt er den Schilderungen und Kommentaren ihrer Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Außerdem entspricht er ihrem Vorsatz, auch die Beilage des Vorwärts durch wissenschaftlich-populäre Beiträge zu beleben. – Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. Das ergäbe etwa 350 M im Monat. GB, Bd. 2, S. 228 und 235.

[2] Die „schwarzen Banden“, „Schwarzen Hundert“, „Schwarzhundertschaften“ waren eine im „Bund des echt russischen Volkes“, nach dessen Spaltung 1908 auch im „Erzengel-Michael-Bund“, verankerte militant nationalistische und antisemitische Bewegung von Monarchisten. Sie agierten als bewaffnete terroristische Banden des zaristischen Regimes, ermordeten Arbeiter, Intellektuelle und zettelten Pogrome an. Sie setzten sich aus reaktionären Elementen des Kleinbürgertums, des Lumpenproletariats und aus Kriminellen zusammen.