Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 789

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drei bis vier Tage hinziehen und dann abbrechen würde. Allein die Bourgeoisie und selbst das Proletariat, das sich seiner Kräfte noch nicht voll bewußt war, täuschten sich. Die Kunde vom Moskauer Streik ergoß sich wie eine Sturzwelle über ganz Rußland. Am nächsten Tage stockte der Verkehr in ganz Zentral-Rußland und am folgenden Tage lag die Eisenbahn von Petersburg bis Odessa, vom Kaukasus und Mittel-Asien bis Ostsibirien still. Die Züge blieben auf den Zwischenstationen, im Felde und überall da, wo sie die Kunde vom Streik erreichte, stehen. Die Lage wurde ernst und die Bourgeoisie Moskaus wurde von großer Erregung gepackt. Man stellte die vorhandenen Vorräte an Mehl, Fleisch, Kohle und Holz fest, die Preise stiegen unheimlich und nun fing man an, sich fieberhaft zu verproviantieren.

Nach weiteren zwei Tagen schlossen sich dem Streik die städtischen Beamten an. Die Stadt lag wie ausgestorben. Gas und elektrisches Licht erloschen, der Straßenbahnverkehr stockte, die Schlachthäuser wurden geschlossen, die Krankenhäuser blieben ohne Wärter, ohne Ärzte. Das Telefon wurde außer Betrieb gesetzt. In der Stadt zirkulierten die unheimlichsten Gerüchte. Man beeilte sich, sich mit Wasser und Schießwaffen zu versehen, die Kaufläden schlossen ihre Türen, die Fenster wurden mit Brettern vernagelt. Nur die Zeitungen erschienen und brachten Nachrichten über immer neue und neue Streiks. Die Pharmazeuten legten auch die Arbeit nieder und die Apotheken mußten geschlossen werden. Der Wasserleitung entströmte eine schmutzige, schwarze Flüssigkeit – die Wasserleitung streikte auch! Schließlich kamen noch die Post- und Telegraphenbeamten hinzu. Moskau war von der ganzen Welt abgeschnitten. Damals war die drahtlose Telegraphie, die jetzt zwischen Petersburg und Moskau funktioniert, noch nicht eingerichtet.

Die Stadt lag tot da. Die Tulerskaja- und die Neglinny Projesd-, die Friedrich- und die Leipzigerstraße Moskaus – waren leer. Nur das Echo der Pferdehufe von berittenen Kosaken- und Dragoner-Patrouillen ertönte. Selten wagte sich eine Zivilperson auf die Straße hinaus und gegen Abend war überhaupt keine Menschenseele mehr zu erblicken.

Trotz der äußeren Stille pulsierte heiß das Leben im Innern der Stadt. Es begannen offene Meetings, großartige Volksversammlungen, es ertönte zum ersten Mal das freie Wort. In den Sälen der Universität, der technischen Hochschule, des Markscheider-Instituts, in den Konservatorien, in der Ingenieurschule usw. wurden Versammlungen von Tausenden von Menschen abgehalten. Tausende und Abertausende von Arbeitern der gesperrten Fabriken, Studenten, Gymnasiasten und Schülerinnen der Mädchengymnasien, Beamte der Staatsbank und der Privatbanken, Post- und Telegraphenbeamte, Damen der Gesellschaft, Offiziere und gemeine Soldaten, die Achselklappen mit Taschentüchern verdeckt, Kaufleute, Bäuerinnen in einfachen Kopftüchern, junge Burschen und alte Mütterchen, Herren in teuren Pelzen und Männer in armseligen „Tschujken“, – alles strömte zu den Meetings. Eine neue Epoche im Leben der Gesellschaft begann, eine neue Luft wehte. Die Freiheit wurde auf einmal

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