Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 790

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/790

zur Tat. Und die Vollzieherin dieser Tat war – die Sozialdemokratie. Die Meetings begannen gegen 9 Uhr morgens und zogen sich bis Mitternacht hin. In den verschiedenen Sälen der Universität wurden gleichzeitig zehn bis zwölf Meetings abgehalten. Die Redner wechselten alle zwei Stunden. Die Reden waren alle ungefähr desselben Inhalts. „Nieder mit dem Zaren“, tönte es überall von der Rednertribüne und die tausendköpfige Zuhörerschaft spendete Beifall. Die Leidenschaften entbrannten. Die Freiheit des Wortes kannte keine Grenzen. Die Bevölkerung berauschte sich an dem nie gekannten teuersten Gute des Kulturmenschen und des Bürgers – an dem freien Wort, an dem offenen revolutionären Kampf. Und wo geschah dies alles? Im „treuen Mütterchen Moskau“, im Herzen des alten Rußland, in der alten Hochburg des Zarentums und der Pfaffenherrschaft.

Die Moskauer Bewegung wurde vom Komitee der Sozialdemokratischen Partei geleitet, wie ihr auch die Initiative der Massenmeetings gehörte. Der Zufall wollte es, daß gerade zu jener Zeit sich eine Menge auswärtiger Genossen aus anderen Städten in Moskau aufhielten und selbstverständlich wurden dieselben sofort zur Arbeit herangezogen. Die Autorität der Partei wuchs enorm. Sämtliche von sozialdemokratischen Rednern vorgeschlagenen Resolutionen und Beschlüsse wurden einstimmig angenommen. Um ein Beispiel dieser Autorität anzuführen, will ich nur erwähnen, daß, obgleich die Masse mich persönlich nicht kannte, ich doch oft zum Vorsitzenden der Versammlungen gewählt wurde, allein auf die Autorität der Sozialdemokratie hin, als deren Redner ich auftrat. Entwerfen wir nun ein Bild von einer solchen Versammlung:

Es ist 9 Uhr morgens. Der Speisesaal im Internat des Markscheider-Instituts ist dicht gefüllt. Es sind 3–4000 Menschen anwesend. Über uns im zweiten Stock tagt ein anderes Meeting – der Arbeiter der Prochowondschen Manufaktur. Im Speisesaal des Institutes halten gleichzeitig die Post- und Telgraphenbeamten ihre Versammlungen ab. Im Zeichensaale die Eisenbahner, in einem anderen städtische Beamte, in der Aula tagt ein allgemeines Volksmeeting. Hier ist als Ordner ein Student des Markscheider-Instituts tätig. „Genossen!“ wendet er sich an die Versammlung, „ich schlage als Vorsitzenden ein Mitglied der sozialdemokratischen Partei vor“ und zeigt auf mich. Alle applaudieren. Als ich auf der Tribüne erscheine, protestiert einer von den in den Saal eingeschlichenen Vertretern der „Schwarzen Bande“. „Die Abstimmung ist ungültig, nieder mit ihm!“ schreit das Individuum. „Nieder, nieder!“ schreien noch ein paar „schwarze“ Genossen aus den hinteren Reihen. „Wer für den sozialdemokratischen Vorsitzenden ist, den bitte ich die Hand zu erheben!“ ruft laut der Student. Das ganze Auditorium hebt wie ein Mann die Hände auf. „Wer ist dagegen?“ Niemand rührt sich. – „Es ist nicht richtig!“ schreit wieder eine Stimme. Das Auditorium kommt in Erregung. Man lärmt und schreit im Zorn: „Polizeilump!“ „Schwarze Bande!“ – Ge-no-ssen!“ bemühe ich mich laut zu schreien, „indem Sie mich als Vorsitzenden wählten, übergeben Sie mir die Macht über die Leitung der Versammlung. Beruhigen Sie sich. Ich befehle, die störende Person zu entfernen!“ Vier Genossen

Nächste Seite »