Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 261

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/261

Der jetzige Kurs und die Sozialdemokratie. Rede am 9. Februar 1899 in einer Volksversammlung in Charlottenburg

[1]

Nach einem Zeitungsbericht

Rednerin schildert in zündenden Worten die Tätigkeit des verflossenen Reichstags, der eingeleitet [worden] wäre durch Bewilligung der Militärvorlage[2] und endigte mit Annahme der Tirpitz’schen Flottenvorlage[3], sie weist auf die steigenden Ausgaben für Militär hin und kommt dann auf den neuen Reichstag zu sprechen, aus dessen Zusammensetzung nach der Stellung des Zentrums als Regierungspartei für die Arbeiterschaft nicht viel Gutes herauskommen kann. Desweiteren erwähnte die Vortragende die drohende Zuchthausvorlage[4], welche bereits ihre Schatten voraus wirft, wie das Dresdener Urteil gegen die Löbtauer Bauarbeiter[5] beweise. In beredten Worten fordert sie dann die Arbeiter, ebenso die Frauen auf, zur Geltendmachung ihrer noch bestehenden Rechte sich zu organisieren und schließt ihre Ausführungen mit den Worten: Es gibt ein Volk, vor dem wir alle zittern, und eine Freiheit, für die wir alle sterben.

Vorwärts (Berlin),

Nr. 38 vom 14. Februar 1899.

Nächste Seite »



[1] In der RL-Bibliographie von Feliks Tych,1962, unter Nr. 121 vermerkt.

[2] Unter Leo Graf von Caprivi, 1890 bis 1894 Reichskanzler, legte die Regierung am 23. November 1892 eine neue Militärvorlage vor, in der sie die Vermehrung des stehenden Heeres um 86000, auf durchschnittlich 572000 Mann, und die Vermehrung der Reserve durch Reduzierung der Dienstzeit für Fußtruppen bis Frühjahr 1914 auf 4,4 Mill. Mann forderte. Einmalige Mehrkosten von 68 Mill. M und fortdauernde Mehrkosten von 64 Mill. M sollten hauptsächlich durch erhöhte Bier- und Branntweinsteuer aufgebracht werden. Diese Militärvorlage übertraf alle Heeresverstärkungen seit 1874. Erst nach Auflösung des Deutschen Reichstages durch Wilhelm II. am 6. Mai und nach den Reichstagswahlen am 15. Juni 1893 wurde die gering veränderte Militärvorlage am 15. Juli 1893 mit 201 gegen 185 Stimmen angenommen. Dagegen stimmten die Abgeordneten der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, des Zentrums, der Freisinnigen Volkspartei sowie die Welfen und die Elsässer.

[3] Gemeint ist die erste Flottenvorlage, die am 28. März 1898 im Deutschen Reichstag mit 212 gegen 139 Stimmen angenommen worden war. Dem Flottengesetz vom 10. April zufolge sollte die deutsche Kriegsflotte bis 1904 auf 19 Linienschiffe, acht Küstenpanzerschiffe und 42 Kreuzer mit einem Kostenaufwand von 482,8 Mill. M vergrößert werden. Damit begann Deutschland das Wettrüsten zur See, das zur Verschärfung des Gegensatzes zwischen Deutschland und England führte.

[4] Wilhelm II. kündigte am 6. September 1898 in einer Rede in Oeynhausen neue Ausnahmegesetze gegen die Arbeiterklasse an, wonach die Organisierung und Durchführung von Streiks mit schweren Zuchthausstrafen geahndet werden sollte.

[5] Am 3. Februar 1899 waren vom Dresdener Schwurgerichtshof neun Bauarbeiter aus Löbtau bei Dresden zu insgesamt 61 Jahren Zuchthaus und Gefängnis verurteilt worden, weil sie dagegen protestiert hatten, daß auf einem Bau über die festgesetzte Arbeitszeit hinaus gearbeitet wurde. Hierbei war es zu Tätlichkeiten gekommen, nachdem der Bauleiter mit einem „blindgeladenen“ Revolver geschossen hatte.