Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 633

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Der politische Massenstreik. Referat am 7. November 1905 in einer öffentlichen Versammlung im Wahlverein von Leipzig-Stadt im Volkshaus

Nach einem Zeitungsbericht

Es ist eine eigenartige Erscheinung des Parteilebens, die wir in der letzten Zeit beobachten können, nicht nur für die Parteigenossen, sondern auch für den Forscher, daß der politische Massenstreik als Kampfmittel der Arbeiter so schnell anerkannt wurde. Das Merkwürdige besteht aber nicht in der Neuheit dieser Frage, sie ist nichts Neues, im Gegenteil, man diskutiert darüber schon sehr lange Zeit, schon auf internationalen Kongressen vor zwölf Jahren rief diese Frage die heftigsten Meinungskämpfe hervor, man diskutierte sie auch bei uns, und zwar in der Richtung, ob man mit dem Massenstreik etwa das allgemeine Wahlrecht zum preußischen Landtage erkämpfen könne, sondern die Merkwürdigkeit besteht in ihrer plötzlichen Einreihung als Mittel des Klassenkampfes.

Vor noch gar nicht langer Zeit betrachtete man dieses Mittel als etwas dem proletarisch-sozialistischen Klassenkampfe fremdes, etwas wesenloses, gar nichts diskutables, und heute fühlen wir gemeinsam, daß der politische Massenstreik kein lebloses Wesen, sondern ein Stück des lebensvollen Kampfes darstellt. Was hat nun den schnellen Umschwung bewirkt? Die russische Revolution! Auch in Rußland ist vor einiger Zeit noch dieselbe Anschauung über den politischen Massenstreik wie bei uns gewesen. Wohl wußte man, daß in Rußland eine Revolution ausbrechen und daß diese nur mit Gewalt vor sich gehen würde, aber ihre Form und Inhalt kannte man noch nicht. Jetzt, seit jenem glorreichen 22. Januar,[1] der mit goldenen Lettern in die Geschichte eingetragen ist, sieht man klar, in welcher Form sich der gewaltige Kampf zur Niederwerfung des russischen Absolutismus abspielt. Der in der russischen Revolution mit so großem Erfolge angewendete politische Massenstreik hat den Umschwung in der Anschauung des politischen Massenstreiks bewirkt.

Woher kommt es nun bei uns, daß die Losung des politischen Massenstreiks ein so plötzliches, unmittelbares Interesse in Anspruch nimmt? Es muß eine große Verschiebung in den Klassenverhältnissen sein, daß die Arbeiter instinktiv nach neuen Waffen suchen, um die Kämpfe auszufechten. Zwei gegensätzliche Auffassungen sind es hauptsächlich, die in unserer Partei in letzter Zeit hervorgetreten sind, die

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[1] Gemeint ist der Beginn der russischen Revolution, als am (9.) 22. Januar 1905 in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift zogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven empfangen, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus.