Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 148

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Zur Dreyfus-Affäre

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Die Presse des Generalstabs sucht die Regierung und die öffentliche Meinung durch alle Mittel einzuschüchtern, um die nun unvermeidliche Revision des Dreyfus-Prozesses zu hintertreiben. Einerseits dienen dem „Gaulois“ und dem „l’Eclair“ zu diesem Zwecke wieder Verdächtigungen gegen den Oberst Picquart; die Blätter wollen den Gedanken erwecken, als hätte der Oberst jenes „kleine blaue Dokument“, das für Esterhazy so stark kompromittierend ist, selbst fabrizieren lassen. Andererseits läßt die Bande Rocheforts das Gespenst des Krieges mit Deutschland aufmarschieren und ruft, die Revision des Prozesses sei mit der Auslieferung Frankreichs an den Feind gleichbedeutend. Jaurès antwortet darauf sehr richtig in der „Petite République“, die Generalstäbler folgten da offenbar dem ehemaligen Brauch des alten französischen Adels, der bekanntlich seine Hofschranzen und Günstlinge nach den Provinzen Frankreichs benannte. „Wenn sie also rufen: die Champagne sei genommen! so bedeutet das, daß man an den Fälscher Henry die Hand gelegt hat; die Bourgogne sei bedroht! – das soll heißen: man will du Paty de Clam verhaften. Und schreien sie: Frankreich sei verloren! so heißt es; daß die Stunde Esterhazys naht.“ – Esterhazy wurde in den letzten Tagen in Sachen der Privatklage seines Vetters auf Schwindel vor den Kommissar der gerichtlichen Polizei geladen, er erschien aber nicht, sondern antwortete brieflich. Die Vermutung, er sei geflohen, wird von einem Teil der Presse aufrechterhalten. Die „Droits de l’Homme“ (Menschenrechte) behaupten, Esterhazy hätte sich einmal auf der Redaktion einer großen Morgenzeitung, als er sich allein mit dem Redakteur wähnte, als den Autor des Bordereau bekannt; hinter der Tür sei aber ein Zeuge versteckt gewesen, und er, sowohl wie der Redakteur, seien bereit, die Aussage auf Wunsch zu bezeugen. Man meint, daß es sich um die Redaktion des „Figaro“ handelt.

Die „Aurore“ veröffentlicht eine sehr interessante Behauptung, wonach der Fälscher Henry bei seinen Lebzeiten eine sehr energische Aktion zum Schutze von Esterhazy führte. So soll er, als im letzten Mai eine große englische Zeitung sich anschickte, einige Briefe Esterhazys an Schwarzkoppen zu veröffentlichen, an die betr. Redaktion einen Vermittler geschickt haben mit dem Vorschlag, gegen Geldentloh

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[1] Die Notiz ist mit II, einem von Rosa Luxemburgs Zeichen, versehen. – An Leo Jogiches hatte Rosa Luxemburg am 10. Juli 1898 geschrieben: „Mit Parvus [Redakteur der SAZ] habe ich die Beziehungen aufs beste hergestellt: Ich schreibe solche Notizen für ihn, wie Du sie dort hast, über Polen, Frankreich und Belgien. Sie geben mir 30 M im Quartal für das Zeitschriftenabonnement! Natürlich neben dem Honorar.“ Bei Gelegenheit wünsche er solche Notizen auch über England, Italien und die Türkei. Siehe GB, Bd. 1, S. 171. – Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten um Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an.