Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 668

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/668

Die Revolution in Rußland

[1]

Ein neues Gemetzel

Über ein furchtbares Blutbad, das Kosaken in Reval unter friedlich Demonstrierenden anrichteten, wird dem „Standard“ gemeldet: London, 13. November. Einige tausend Bürger von Reval hatten sich versammelt, um politische Reden über die jetzige Lage in Rußland zu hören. Die Versammlung verlief vollständig ruhig und friedlich. Plötzlich kamen Kosaken herangesprengt, um die Teilnehmer auseinanderzujagen. Anstatt aber in die Menge hineinzureiten, gaben die Kosaken sofort mehrere Salven ab, und erst dann ritten sie in die fliehende Menge hinein. Fünfhundert Personen wurden auf der Stelle getötet, darunter viele Frauen.

Gegen die Selbstverwaltung Polens

Petersburg, 12. November. (Telegramm der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Ein amtliches Kommuniqué erinnert an den kaiserlichen Ukas vom 25. Dezember 1904, der die Grundlagen einer stufenweisen Erneuerung des bürgerlichen Lebens der russischen Untertanen feststellt, und besagt weiter: Die infolgedessen ergriffenen Maßnahmen betrafen ebenfalls die Untertanen polnischer Nationalität. Auf Grund dieser Maßnahmen wurden die Ausnahmegesetze abgeschafft, welche die freie Entwicklung dieser Nationalität hemmten und ihre Rechte mit denen der russischen Bevölkerung gleichgestellt. Aus diesen Maßregeln ergaben sich die Reformen betreffend die Schule, die Semstwos, die Stadt- und die Gerichtsverwaltung, die durch das Reglement des Ministerkomitees vom 16. Juni festgesetzt waren und durch die Bestimmungen des Ukases vom 30. April bezüglich der religiösen Freiheiten. Ferner wurden ebenfalls auf Polen ausgedehnt: die allgemeinen Maßnahmen für die Berufung einer Duma des Kaiserreiches und die Einführung der Versammlungsfreiheit. Endlich wurden die Polen am 30. Oktober voll als freie Bürger anerkannt und ihnen so die volle Möglichkeit geboten, tatsächlich ihre Fähigkeit zu beweisen, um an der großen schöpferischen Arbeit teilzunehmen. In gänzlichem Vergessen früher erteilter empfindlicher Lehren geben die polnischen Politiker, die die nationale Bewegung im Königreich Polen leiten, Bestrebungen kund, die ebenso gefährlich für die Bevölkerung Polens wie unverschämt gegen das russische Reich und auf

Nächste Seite »



[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“.