Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 669

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eine Trennung von Letzterem gerichtet sind. Sie weisen den Gedanken gemeinsamer Arbeit mit dem russischen Volke in der Duma zurück und verlangen in einer Reihe von Beschlüssen und Versammlungen volle Autonomie Polens mit einer besonderen Volksvertretung, indem sie so auf eine Wiederaufrichtung des Königreichs Polens hinzielen. Unter ihnen stehen sich zwei Parteien gegenüber, die Sozialisten und die Nationalisten. Beide stimmen aber in demselben Bestreben darin überein, das auch in den Köpfen mehrerer Schriftsteller, Publizisten und Volksredner besteht, die die Bevölkerung mit sich fortzureißen suchen. In verschiedenen Städten der Weichselgegend haben zahlreiche Umzüge stattgefunden mit polnischen Fahnen und unter Absingen revolutionärer polnischer Nationallieder. Zu gleicher Zeit beginnt eine willkürliche Verdrängung der Staatssprache, selbst wo ihr Gebrauch durch das Gesetz vorgeschrieben ist. An gewissen Orten plündern Banden von Arbeitern und Bauern die Schulen, die staatlichen Branntweinniederlagen, die kommunalen Einrichtungen und vernichten dabei alle Korrespondenz in russischer Sprache.

Die Regierung wird nicht dulden, daß die Integrität des Reiches angetastet werde. Die Projekte und Taten der Aufständischen zwingen die Regierung, auf das Bestimmteste zu erklären, daß, so lange neue Ruhestörungen in den Weichselgebieten nicht hintangehalten werden und so lange der Teil der Bevölkerung, der den politischen Agitatoren folgt, nicht von seiner Verblendung läßt, keine einzige der aus den Manifesten vom 19. August[1] und vom 30. Oktober dieses Jahres sich ergebenden Wohltaten diesen Gebieten zuteil werden wird.[2] Von der Verwirklichung friedlicher Grundsätze kann in einem Lande, das sich im Aufruhr befindet, selbstverständlich nicht die Rede sein. Zum Zwecke der Wiederherstellung der Ordnung werden sämtliche Weichselgebiete als zurzeit im Kriegszustande befindlich erklärt; so hängt die Zukunft des polnischen Volkes von ihm selbst ab. Die Regierung, die die durch die jüngsten Akte der Gesetzgebung erweiterten nationalen Rechte des polnischen Volkes auch ferner aufrechtzuerhalten gewillt ist, wird abwarten, daß das Volk sich von der politischen Erregung, die sich des Königreiches Polens bemächtigt hat, losmache, und warnt das Volk davor, einen Weg zu betreten, dessen Gefährlichkeit es leider nicht zum ersten Mal kennen lernt.

Petersburg, 12. November. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Dem Grafen Witte[3] sind aus verschiedenen Teilen Polens Erklärungen betreffend volle Autonomie Polens zugegangen. Unter anderem erhielt er am 11. d. M. ein Telegramm aus Kalisch mit der Mitteilung, daß eine zahlreich besuchte Versammlung dort zu dem Schlusse gelangt sei, nur die Einführung einer Konstitution für Polen und volle legislative und administrative Autonomie sowie Autonomie in Schule und Rechtspflege und die Berufung eines Landtages nach Warschau auf der Grundlage des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts könne zu einer gesunden Entwicklung des Landes führen. –

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[1] In der Quelle: 18. August.

[2] Am 19. August 1905 hatte die zaristische Regierung ein vom Innenminister Alexander Bulygin verfaßtes Gesetz für die Wahlen zu einer Reichsduma erlassen. Danach war die Duma nur als beratendes Organ vorgesehen, und die Wahlen sollten nach dem Ständeprinzip und nach einem festgelegten Vermögenszensus vollzogen werden. Die Industriearbeiter waren völlig und die Bauern fast gänzlich von den Wahlen ausgeschlossen. – Wochen später sah sich die zaristische Regierung angesichts des politischen Generalstreiks gezwungen, weitere konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben.

[3] Graf Witte war von 1892 bis 1903 Finanzminister und von Oktober 1905 bis April 1906 Ministerpräsident Rußlands. Er war Monarchist, aber zeitweilig zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit. Letzten Endes war er maßgeblich an der Unterdrückung der Revolution beteiligt.