Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 670

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Ein Telegramm aus Radom setzt Witte davon in Kenntnis, daß eine Versammlung von Bewohnern der Stadt und Umgegend sich für die Autonomie ausgesprochen und beschlossen habe, die sofortige Einberufung einer Konstituierenden Versammlung auf Grundlage des allgemeinen, gleichen Wahlrechts zu fordern.

Der Zarismus sucht also die nationalistische Bewegung dadurch niederzukämpfen, daß er – dem polnischen Volke einstweilen die versprochenen Rechte und Freiheiten vorenthält! Diese Politik kann natürlich nur das Gegenteil des Beabsichtigten erreichen.

Eine Intervention Deutschlands?

Der Petersburger „Times“-Korrespondent meldet, daß die Fortsetzung des Generalstreiks in Polen sicher die Gewährung einer Autonomie herbeiführen werde. Die russische Regierung sei nämlich trotz der Verhängung des Kriegszustandes zur größten Nachgiebigkeit gegen Polen entschlossen, da es Deutschland mißtraue und eine Einmischung Deutschlands in polnische Angelegenheiten befürchte.

„Standard“ bringt gleichfalls eine Meldung über eine eventuell beabsichtigte Intervention Deutschlands. Wilhelm II. habe sich schon vor einem halben Jahre mit Österreich darüber verständigt, daß Truppen nach Polen zu entsenden seien, falls Rußland dort der Lage nicht mehr gewachsen sei. Österreich werde sich ja um der ungarischen Wirren[1] wegen an der Intervention nicht beteiligen können, doch wisse man, daß Wilhelm II. zu einer solchen entschlossen sei. Danach würde es sich also nicht um eine Einmischung wider den Willen des Zarismus, sondern zugunsten Väterchens handeln.

Wir halten beide Lesarten für gleich irrig. Es erscheint uns ausgeschlossen, daß Wilhelm II., der seine Friedensliebe so oft und so nachdrücklich hervorgehoben hat, auch nur einen Augenblick daran denken könnte, sich in die russischen Wirren einzumischen, deren Ausgang noch völlig unabsehbar ist. Die Folgen einer solchen Intervention könnten in der gegenwärtigen Situation für die deutsche Regierung geradezu verhängnisvoll sein. Die englischen Meldungen beabsichtigen wohl auch nur ein deutsches Dementi. –

Die Sozialdemokratie und die Judenhetze

Die heutige „Zeit am Montag“ bringt die Nachricht aus Petersburg, daß das neue sozialdemokratische Blatt „Neues Leben“, das unter Gorkis Mitarbeiterschaft erscheint,[2] angeblich zu Judenmetzeleien aufgefordert hätte. Die „Z.a.M.“ äußert selbst Zweifel in bezug auf die Richtigkeit dieser Nachricht. Selbstverständlich beruht sie auf einem grotesk-komischen Quiproquo: Das Blatt der Sozialdemokratie hat in seiner ersten, uns vorliegenden Nummer als ein Dokument über die Wühlarbeit des Polizeigesindels, genannt „Schwarze Hunderte“,[3] ein von diesen verbreitetes Flugblatt

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[1] In Ungarn hatte am 15. September 1905 ein eintägiger politischer Massenstreik stattgefunden, mit dem Straßendemonstrationen einhergingen, an denen sich etwa 100000 Menschen beteiligten. Im Oktober/November 1905 kam es in Österreich-Ungarn zu machtvollen Streiks und Demonstrationen für das allgemeine Wahlrecht. – Im Oktober/November 1905 fanden in Österreich-Ungarn machtvolle Streiks und Straßendemonstrationen statt, die das allgemeine Wahlrecht forderten. Die Bewegung, an der Zehntausende Menschen teilnahmen, griff auf Mähren, Galizien, Krain, Tirol u. a. Gebiete über. Losungen der Sozialdemokratie, wie „Sprechen wir Russisch!“ und „Es lebe der Generalstreik!“ wurden aufgegriffen. Die Unruhen erfaßten auch die Armee und Flotte. Die Regierung versprach im Februar 1906, dem Parlament den Entwurf einer Wahlrechtsreform zu unterbreiten. Ein jedoch in vielerlei Hinsicht beschränktes Wahlrecht wurde schließlich im Januar 1907 verkündet.

[2] Siehe Rosa Luxemburg: Die Revolution in Rußland. In: GW, Bd. 6, S. 651.

[3] Die „schwarzen Banden“, „Schwarzen Hundert“, „Schwarzhundertschaften“ waren eine im „Bund des echt russischen Volkes“, nach dessen Spaltung 1908 auch im „Erzengel-Michael-Bund“, verankerte militant nationalistische und antisemitische Bewegung von Monarchisten. Sie agierten als bewaffnete terroristische Banden des zaristischen Regimes, ermordeten Arbeiter, Intellektuelle und zettelten Pogrome an. Sie setzten sich aus reaktionären Elementen des Kleinbürgertums, des Lumpenproletariats und aus Kriminellen zusammen.