Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 121

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Aus Frankreich, (Einigungsversuche der sozialistischen Fraktionen. – Sozialistische Arbeiterschutzvorlage.)

[1]

Die Frage der Vereinigung der verschiedenen sozialistischen Gruppen in Frankreich ist wieder in den Vordergrund getreten. Die Allemanisten[2] haben zum Behufe der Verständigung mit anderen Organisationen bereits ihre Delegierten gewählt. Gleichzeitig erklären auch die Blanquisten[3] die Erzielung einer Grundlage zur gemeinsamen Aktion aller Parteien für notwendig und die Guesdisten[4] haben die nämliche Frage auf die Tagesordnung ihres nächsten Parteikongresses in Montluçon gestellt. An dem guten Willen und dem aufrichtigen Wunsch der französischen Sozialisten, der bisherigen Zersplitterung ihrer Kräfte ein Ende zu machen, bestanden übrigens auch bis jetzt keine Zweifel; die Sache liegt an den großen praktischen Schwierigkeiten, welche sich noch immer der Verwirklichung der guten Idee in den Weg legten. Eine dieser Schwierigkeiten ist z. B. die Frage der sogenannten Unabhängigen, d. h. zu keiner Organisation gehörenden Sozialisten, unter welchen so namhafte und verdienstvolle Genossen wie Rouanet, Fournière, Millerand u. a. zählen, mit denen ein Einverständnis sehr schwer zu erzielen ist. Es wird auch der Vorschlag gemacht, daß die sozialistische Verständigung sich vorläufig bloß auf feste Organisationen beschränkt oder aber, daß die sozialistischen Einiger unter sich eine Organisation ad hoc bilden, um die Verhandlungen zu ermöglichen. Die eigentliche, die größte Schwierigkeit liegt aber nicht in den formellen Fragen der Vereinigung, sondern in den Fragen der Taktik, die von den vielen sozialistischen Organisationen Frankreichs in so verschiedener Weise aufgefaßt wird, daß die Debatten über diesen Punkt zu den schärfsten Auseinandersetzungen Anlaß geben dürften. Schon die Stellungnahme zu der Dreyfus-Affäre[5], um die sich jetzt das gesamte öffentliche Leben Frankreichs dreht, wird einen solchen Stein des Anstoßes bilden. –

Vaillant und Genossen haben im Parlament u. a. einen Gesetzentwurf eingebracht betr[effend] den Schutz der von den städtischen Gemeinden beschäftigten Arbeiter; es wird darin verlangt: die Beschränkung der Arbeitszeit auf neun Stunden täglich und sechs

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[1] Die Notiz ist mit II, einem von Rosa Luxemburgs Zeichen, versehen. An Leo Jogiches hatte Rosa Luxemburg am 10. Juli 1898 geschrieben: „Mit Parvus [Redakteur der Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden)] habe ich die Beziehungen aufs beste hergestellt: Ich schreibe solche Notizen für ihn, wie Du sie dort hast, über Polen, Frankreich und Belgien. Sie geben mir 30 M im Quartal für das Zeitschriftenabonnement! Natürlich neben dem Honorar.“ Bei Gelegenheit wünsche er solche Notizen auch über England, Italien und die Türkei. Siehe GB, Bd. 1, S. 171.

[2] Sie waren Anhänger von Jean Allemane, französischer kleinbürgerlicher Sozialist, Kommunarde, Journalist, vertrat anarcho-syndikalistische Auffassungen; gründete 1890 die Revolutionäre Sozialistische Arbeiterpartei. Zum Wirken der Allemanisten schrieb Rosa Luxemburg: „Eines der wesentlichsten Punkte, wodurch die Allemanisten sich von den übrigen sozialistischen Fraktionen unterscheiden, ist nun, daß sie nicht in der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat das Mittel zu dessen Befreiung erblicken, vielmehr in dem ‚Generalstreik’. Den Allemanisten war es zu verdanken, daß internationale Sozialistenkongresse sich wiederholt mit dem Generalunsinn des Generalstreikes beschäftigen mußten, der hier u. a. auch von Guérard energisch befürwortet wurde. Der Aberglaube von der Macht des Generalstreiks spukt nun auch in der eingeleiteten Bewegung.“ Rosa Luxemburg: Zur Bewegung der französischen Eisenbahner [2. September 1898].

[3] Die Blanquisten setzten als Verfechter eines ultrarevolutionären Avantgardismus auf Putschtaktik.

[4] Die Gruppe um Jules Guesde verstand sich als revolutionäre marxistische Richtung.

[5] Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten um Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an.