Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 322

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Notiz [zum Fall Millerand]

[1]

Eine unerwartete Enthüllung zum Falle Millerand[2] erregt soeben in Frankreich allgemeines Aufsehen. In Nancy, auf einem großen Progressistentag, hat am 12. Mai der gewesene Unterrichtsminister Raymond Poincaré eine Programmrede gehalten, in der er unter anderem auch die Vorgeschichte der Konstituierung des Kabinetts Waldeck-Rousseau, wie sie sich hinter den parlamentarischen Kulissen abgespielt hat, in allen Details erzählt. Poincaré war bekanntlich im Juni 1899 nach dem Fall des Kabinetts Brisson mit der Bildung eines neuen betraut worden, und erst als sich die Bemühungen Poincarés zerschlagen hatten, trat Waldeck-Rousseau auf die Bühne. Poincaré, der selbst zur Progessistischen Union gehört, das heißt zu einer Fraktion, deren Führer die Reaktionäre Dupuy, Ribot und Méline sind, wollte, erzählt er, ein Kabinett der republikanischen Konzentration bilden und lud zu diesem Zwecke die Radikalen Sarrien und Bourgeois von der Linken, den Opportunisten Barthou von der Rechten ein. Dann aber gibt er folgende Darstellung der Dinge: „Andererseits, am Nachmittag des Freitags, am 16. Juni, kam zu mir einer der hervorragendsten Führer der sozialistischen Partei, Herr Millerand, und in Anwesenheit meines Freundes Grosdidier, des Bürgermeisters von Commentry, den ich in diesem Augenblick hier vor mir sehe und der an jenem Tage in meinem Kabinett saß, sagte er mir ganz offen und ehrlich, daß angesichts des Ernstes der Krise seine Freunde einen Anteil an der Aktion und der Gefahr für sich forderten. Er erklärte mir, daß er es für unbedingt notwendig halte, daß bei der Bildung des Kabinetts an alle republikanischen Kräfte appelliert werde, inbegriffen die Sozialisten, und er schlug mir den Herrn Viviani vor.“

Poincaré war jedoch einer anderen Meinung in bezug auf die Elemente, die zur Bildung des Ministeriums herangezogen werden sollten, und er antwortete Millerand ausdrücklich, daß er unter keinen Umständen die vorgeschlagene Kombination befürworten werde.

Die Enthüllungen Poincarés werfen ein ganz neues Licht auf die Rolle Millerands in der Krise des Jahres 1899. Bis jetzt stellten seine Freunde die Sache so dar, daß Millerand nur „der Not gehorchend, nicht dem inneren Triebe“ sich zur Übernahme des Portefeuilles entschlossen, ja, daß er gerade damit die Republik gerettet habe,

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[1] Diese Notiz vom 15. Mai 1901 ist nicht gezeichnet. Aus Rosa Luxemburgs Brief vom 16. Mai 1901 an Clara Zetkin geht hervor, daß sie die Verfasserin ist, siehe GB, Bd. 1, S. 520.

[2] Siehe S. 318, Fußnote 5.