Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 323

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weil ohne ihn ein radikales, ehrlich republikanisches Ministerium gar nicht zustande gekommen wäre. Nun stellt es sich heraus, daß Millerand auch ohne diesen außerordentlichen Zwang zu haben war, ja daß er sich selbst eifrig anbot – denn das Angebot im Namen Vivianis war selbstverständlich nur eine verblümte Form des Angebots der eigenen werten Person Millerands. Bei der bekannten Lauterkeit und Großzügigkeit des Charakters Vivianis ist es von vornherein ausgeschlossen, daß er irgendwie an dem ministeriellen Techtelmechtel Millerands mit den Progressisten beteiligt war.

Es erfolgt daraus noch ein Zweites. Bis jetzt hieß es, die Teilnahme Millerands am Ministerium Waldeck-Rousseau und die Erhaltung dieses Ministeriums am Ruder sei dringend nötig und selbst mit der Preisgabe des eigenen Programms nicht zu teuer erkauft, da sonst die Gefahr eines Kabinetts Méline drohe. Aber Millerand war, wie es sich zeigt, bereit, ebenso gut an einem Kabinett der mélinistischen Fraktion teilzunehmen, wie am radikalen. Ja, er bettelte gerade um diese Ehre, und nur der Fußtritt Poincarés hat vielleicht den „sozialistischen Minister“ davor bewahrt, ein Progressistenkabinett zusammen mit dem Reaktionär Barthou zu schmücken. Man denke nur, daß auf diese Weise um ein Haar die Entstehung der ganzen Theorie von der radikal-sozialistischen Allianz gegen die mélinistische Reaktion, die Entstehung der „neuen Methode“ des Sozialismus vereitelt worden wäre!

Und endlich noch ein Drittes. Die langen Auseinandersetzungen von neulich darüber, ob Millerand seine Genossen von seinem bevorstehenden Eintritt in das Kabinett Waldeck-Rousseau in genügender Weise benachrichtigt und um Ermächtigung ersucht hatte, werden durch die Erklärungen Poincarés kurz abgeschnitten. Jetzt sieht man, daß, bevor noch Waldeck-Rousseau selbst an ein Ministerium dachte, Millerand sich um das Portefeuille bewarb, ja, daß er „im Namen seiner Freunde“ den Anteil an einem progressistischen Kabinett forderte – während „seine Freunde“, das heißt die sozialistischen Parteien und die Kammerfraktion, bis zu dem Tage, wo Poincaré sprach, also zum 12. Mai dieses Jahres, nicht die geringste Ahnung von seinen Unterhandlungen mit diesem hatten und nur von seinen Unterhandlungen mit Waldeck-Rousseau einige Tage nach der hier beschriebenen Szene jene ersten lakonischen Mitteilungen in der Fraktionssitzung erhielten! Vielleicht werden wenigstens diese vernichtenden Enthüllungen eines bürgerlichen Exministers jenen freiwilligen Anwalt Millerands etwas ernüchtern, der neulich im „Vorwärts“ sich in seinem Eifer so weit hinreißen ließ, erst die Antwort Jaurès’ auf die Erklärungen Vaillants sofort abzudrucken, während von den Vaillantschen Erklärungen, die bereits im Februar erschienen waren, auch nicht mit einem Worte im „Vorwärts“ Notiz genommen wurde, sodann die Duplik Vaillants in verstümmelter Form und mit unberufenen Kommentaren abzudrucken, so daß sie gegen die eigenen Behauptungen Vaillants zeugen sollte.[1] Hof

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[1] Gemeint sind die Artikel „Millerands Eintritt in das Ministerium“ im Vorwärts Nr. 95 vom 24. April 1901 und Nr. 105 vom 7. Mai 1901, die nach dem in Fußnote 1 erwähnten Brief wahrscheinlich vom „Vorwärts“-Redakteur Hugo Poetzsch stammten.