Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 731

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/731

Die Siegestage des Verfassungsmanifestes

[1]

(Entnommen der russischen Zeitung „Ruß [Otetschestwa]“ [Rußland].)

Ja, heute hat unser Volk den ersten großen und wohlverdienten Sieg errungen. [2] Nicht leicht erkämpfte es ihn. Gar viele raue Kampfestage stehen ihm noch bevor. Die eigentliche Arbeit beginnt erst jetzt, – dachte ich, als ich abends zur Telegraphenstation fuhr, um die fernen Verbannten zu benachrichtigen; ich dachte, daß endlich der Tag angebrochen sei, dessentwegen so viele beste und selbstlose Kräfte im grausamen Kampf mit der despotischen Macht unterlagen.

Der Tag des Sieges ist angebrochen; jedoch wie viel Niederlagen, Kummer, Unglück, Sehnsucht und Leiden waren im Lager der Kämpfenden und Besiegten, und wie viel ruhige Vergewaltigung und kalter frecher Spott seitens der mächtigen Sieger! Unwillkürlich gedenkt man der gefallenen Opfer dieses Kampfes. Der junge, bescheidene achtzehnjährige Balmaschkow, der, noch fast ein Kind, nach dem Todesurteil durch den Strang, sich entsagte, ein Gnadengesuch zu unterschreiben. Er wollte nicht bitten den, der nach seiner Meinung kein Recht hatte, ihn zu richten. In seinem letzten Briefe an seine Mutter schrieb er ihr folgende Trostworte: „Ich opfere mein Leben für die Armen und Unterdrückten meines Volkes“, und ging hierauf fest und sicher in den Tod.

Ist er der einzige? Wie viele waren ihrer! Wer wird uns dafür entgelten! … Gott! Sie, die Gefallenen im verzweifelten Kampfe, sie alle sehen gar nichts! Sie sind nicht mit uns! Es sind ihrer gar viele! Sie sind alle im Grabe.

Der Tag der Freiheit und des Sieges verdunkelt sich für mich…

Doch was sind das für Schreie? Einige Gardisten zu Pferde und rings um sie schreit ein jubelnder Haufe, winkt ihnen mit Blättchen und drängt sich hart an die Pferde. Was ist das? Meuterei? Nein, die Soldaten beugen sich aus den Satteln, strecken die Hände entgegen, friedliebend beeilen sich alle, diese freudig zu drücken. „Friede ist geschlossen! Friede zwischen dem Volke und der Armee!“ – erriet ich.

Genug, Kinderchen; jetzt werdet Ihr schon nicht mehr auf uns schießen; die Freiheit ist gekommen, der Wille des Volkes ist da; jetzt seid Ihr unser, uns teuer – schrie man

Nächste Seite »



[1] Dieser emotionale Bericht eines Zeugen dürfte von Rosa Luxemburg als Ergänzung zu der von ihr gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“ ausgewählt worden sein. Als Chefredakteurin des „Vorwärts“ hatte sie sich am 1. November 1905 auch vorgenommen, die wissenschaftliche Beilage wieder häufiger für populärwissenschaftliche Aufsätze zu nutzen. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. Das ergäbe etwa 350 M im Monat. GB, Bd. 2, S. 228 und 235. – Zur Redaktion gehörten neben Rosa Luxemburg Hans Block, Georg Davidsohn, Wilhelm Düwell, Arthur Stadthagen, Karl Wermuth, Heinrich Cunow, Heinrich Ströbel und Fritz Kunert. „Liebe Róza“, schrieb Karl Kautsky auf eine Visitenkarte am 28. Oktober 1905, „also morgen nimmt das Interregnum ein Ende, und Du bist als Mitarbeiterin feierlich eingeladen, d. h. offiziell, in der neuen Redaktion mitzutun. Erste Pflicht: Du hast morgen, sonntags, Punkt 10 Uhr Vorm[ittag] zu der Redaktionssitzung zu erscheinen, die alles weitere regelt. Für Dienstag wird ein Artikel von Dir erwartet, Alles andere mach mit dem Menschinstwo selbst ab. Es lebe die Revolution an allen Ecken und Enden! Dein K. K.“ Zitiert nach GB, Bd. 2, S. 225.

[2] Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben.