Die Revolution in Rußland
[1]Die liberalen „Ordnungsstützen“
Der Semstwo-Kongreß[2] hat sich offiziell gegen die Einberufung der Konstituierenden Versammlung ausgesprochen! Die „liberalen“ Herren haben somit ihre Allianz mit der zaristischen Regierung besiegelt und ihren Plan, das Verfassungswerk in der Duma abzuwürgen, unter Umgehung einer vom ganzen Volke gewählten Konstituante, akzeptiert.[3] Auf den Lauf der Revolution wird dies natürlich insofern keinen Einfluß haben, als die Arbeiter ruhig bei ihrem Kampfplan verharren und zum Dezember oder Januar einen neuen entscheidenden Kampf auf der ganzen Linie vorbereiten.
Moskau, 21. November. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Kongreß der Semstwos und Städte. In der fortgesetzten Beratung über die gegenüber dem Ministerium Witte[4] zu beobachtende Haltung führen die polnischen Redner Dborotworsky und Lednitzki aus, sie seien zu einer Verständigung bereit unter der Bedingung, daß der Kriegszustand in Polen aufgehoben, in den Elementarschulen der Unterricht in polnischer Sprache zugelassen und diese Sprache in den administrativen und öffentlichen Einrichtungen wieder eingeführt werde. Lednitzki protestiert entschieden gegen die Behauptung, daß Polen daran denke, sich von Rußland loszutrennen. Stachowitsch, Vertreter der Stadt Jelatz, beantragt, die Regierung zu unterstützen, vorausgesetzt, daß die Wahlen zur Duma, die er nicht eine konstituierende, sondern eine repräsentative Versammlung zu nennen bittet, auf der Grundlage des allgemeinen Stimmrechts erfolgen, und ferner vorausgesetzt, daß die Todesstrafe abgeschafft werde. Fürst Wolkonski aus Rjasan warnt die Versammlung vor übertriebenen Forderungen. Falls die Majorität sich gegen die Unterstützung der Regierung ausspreche, werde er beantragen, daß die Minorität zu einer Gruppe zusammentrete und sich dem Ministerium Witte zur Seite stelle. Klimow aus Rjasan sagt, das Volk werde immer für den Kaiser sein, und eine Konstituante sei nur für die Sozialdemokraten nötig. Adelsmarschall Stachowitsch weist auf das Beispiel der Finnländer hin, die, nachdem sie von der Re-
[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“.
[2] Semstwo: 1864 im Zuge liberaler Reformen in Rußland eingerichtetes und bis 1917 bestehendes Organ lokaler Selbstverwaltung auf Gouvernements- und Kreisebene. In ihnen waren der Adel, die Städter und die Bauern vertreten. Zum Semstwo-Kongreß Rosa Luxemburg: Die Revolution in Rußland, In: GW, Bd. 6, S. 714 ff.
[3] Siehe Rosa Luxemburg: Die Revolution in Rußland. In: GW, Bd. 6, S. 710 ff.; dies.: Die Revolution in Rußland. In: ebenda, S. 714 ff.
[4] Graf Witte war von 1892 bis 1903 Finanzminister und von Oktober 1905 bis April 1906 Ministerpräsident Rußlands. Er war Monarchist, aber zeitweilig zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit. Letzten Endes war er maßgeblich an der Unterdrückung der Revolution beteiligt.