Der Sozialismus auf Guadeloupe
[1]Zu den Erwählten der sozialistischen „Arbeiterpartei“ Frankreichs, die dank der letzten Wahlen ihren Einzug in die französische Kammer gehalten haben, zählt bekanntlich ein Vollblutneger, Legitimus. Er vertritt einen Wahlkreis der zu den Kleinen Antillen gehörigen Insel Guadeloupe. Den französischen Ordnungsparteien ist natürlich die aus Legitimus’ Wahl erhellende Tatsache höchst unlieb, daß der Sozialismus in der Kolonie festen Fuß gefaßt hat, zu einer Macht geworden ist. Ihre Pressekulis suchten deshalb die Bedeutung des sozialistischen Wahlerfolgs herabzusetzen. Ernsthaft langweilige Blätter, wie das „Journal des Debats“, verzapften ihren gerngläubigen Lesern das Histörchen, Legitimus sei nicht als Sozialist, dank einer kräftigen sozialistischen Agitation gewählt worden, vielmehr als Neger, dank des abergläubigen Hokuspokus, durch welchen er seine Stammesbrüder genasführt habe. Der sozialistische Deputierte wurde als rüpelhafter, dummpfiffiger Halbwilder geschildert, dessen Wahlagitation darin bestanden habe, daß er am Vorabend der Wahlschlacht im Adamskostüm, sogar ohne das traditionelle Feigenblatt, auf einem Kirchhof vor einer zahlreichen Negerversammlung die Bamboula tanzte und den Segen der Götzen auf sein wolliges Haupt herabflehte.
Legitimus, den man in der „Arbeiterpartei“ (Guesdisten oder Marxisten) schon seit langen Jahren als überzeugten und sehr tätigen Sozialisten kennt, ist nun kürzlich in Frankreich angekommen, um seine Pflichten als Volksvertreter zu erfüllen. Er ist ein kräftiger, gut gewachsener Mann mit sanften, intelligenten Gesichtszügen. Sein Auftreten enttäuscht gründlich die Erwartungen der guten Spießer, welche nach den fantasievollen Schilderungen der bürgerlichen Blätter sich auf eine groteske Persönlichkeit gefreut hatten, welche die Augen rollt, die Zähne fletscht und ein greuliches Kauderwelsch spricht, wie die Neger, die an Vorstadttheatern mimen oder im Tingeltangel die Sittlichkeit der „besseren Leute“ heben. Genosse Legitimus bedient sich nicht des kreolischen[2] Dialekts, er spricht ein durchaus tadelloses Französisch, nur ab und zu erinnert ein leichter Akzent daran, daß der neue Abgeordnete jenseits der „großen Pfütze“ geboren ist. Seine Haltung ist schlicht und würdig, die eines gebildeten Mannes. Über die Entwicklung der sozialistischen Bewegung auf Guadeloupe
[1] Der Artikel ist mit ♂, einem von Rosa Luxemburgs Zeichen, versehen. An Leo Jogiches hatte Rosa Luxemburg am 10. Juli 1898 geschrieben: „Mit Parvus [Redakteur der SAZ] habe ich die Beziehungen aufs beste hergestellt: Ich schreibe solche Notizen für ihn, wie Du sie dort hast, über Polen, Frankreich und Belgien. Sie geben mir 30 M im Quartal für das Zeitschriftenabonnement! Natürlich neben dem Honorar.“ Bei Gelegenheit wünsche er solche Notizen auch über England, Italien und die Türkei. Siehe GB, Bd. 1, S. 171.
[2] In der Quelle: kreolinischen.