Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 805

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Die Revolution in Rußland

[1]

Die Revolution steht gegenwärtig im Zeichen der Militärrevolten. Der „Aufruhr“ breitet sich in den bisherigen Schutztruppen des Absolutismus so gewaltig aus, wie es noch vor wenigen Monaten der größte Optimist nicht für möglich gehalten hätte. Marine, Landtruppen, Gemeine, Offiziere bis in die höchsten Adelskreise der Garde, Kosaken, Grenzsoldaten, ja Schutzleute, Polizeibeamte – alles ist in hellem Aufruhr begriffen. Und zwar handelt es sich überall um eine politisch zielbewußte und in ihren Erscheinungsformen höchst würdige und ruhige Erhebung der Sklaven des „Zarenrocks“. Ökonomische und politische Forderungen werden überall formuliert. Es ist ein allgemeines Erwachen des Bürgergeistes wie des proletarischen Klassengeistes im Militär. Davon zeugen die folgenden Meldungen.

Petersburg, 12. Dezember. („Laffan“[2]-Meldung.) Aus Moskau hat das Blatt „Ruß [Otetschestwa]“ [Rußland] bedrohliche Nachrichten über die Stimmung unter dem dortigen Militär erhalten. Nach diesen telefonisch übermittelten Meldungen hielten Offiziere und Mannschaften aller Waffengattungen, einschließlich der Kosaken, eine Versammlung ab, in der beschlossen wurde, ein allgemeines Verzeichnis der Beschwerden der ganzen Moskauer Garnison aufzustellen und zu diesem Zwecke eine militärische Massenversammlung zu organisieren. 300 Soldaten in Moskau, die Gefangenentransporte geleiten, sind in den Ausstand getreten, nachdem ihnen bekannt geworden war, daß ihre Kameraden in Kursk das Gleiche getan hatten. Die ausständigen Soldaten in beiden Städten verlangen bessere Behandlung und politische Rechte. Die erstere Forderung ist von den Behörden bereits erfüllt worden, doch dauert der Ausstand der Soldaten fort.

Die dritte Sotnja [Hundertschaft] des ersten Don-Kosaken-Regiments hat eine Reihe Forderungen wirtschaftlicher Natur aufgestellt. Die Leute erhielten sofort doppelte Rationen, doch wurden ihnen gleichzeitig ihre Lanzen und Gewehre abgenommen. (Der beste Beweis, daß es sich nicht bloß um „wirtschaftliche Forderungen“ handelte! Die Red.)

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. – In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist er unter Nr. 377 verzeichnet.

[2] Eine von William MacKay Laffan gegründete Nachrichtenagentur. Der 1848 in Dublin geborene und 1909 in New York verstorbene Laffan war Journalist und u. a. Herausgeber und Eigentümer von „The Sun“.