Antwort auf die Umfrage über Antiklerikalismus und Sozialismus
[1]I.
Der Klerus unter der Monarchie und unter der Republik
Aus sozialistischer Sicht kann es sich bei antiklerikaler Politik niemals um den Kampf gegen religiöse Überzeugungen handeln. Die Religiosität der Massen wird ohnehin erst verschwinden, wenn der Mensch – statt vom sozialen Prozeß beherrscht zu werden – diesen selbst beherrscht und bewußt führt. In jenen Schichten der Bevölkerung, die durch den Sozialismus aufgeklärt sind und die sozialen Entwicklungen zu erfassen vermögen, verflüchtigt sich im übrigen das religiöse Empfinden schon heute.
Unser Grundsatz, daß „Religion als Privatsache“ zu betrachten sei, zwingt uns in religiösen Fragen, soweit es sich um persönliche Überzeugungen, also um die Gewissensfreiheit, handelt, zur Neutralität und zur völligen Enthaltung von Kritik. Und nicht nur das. Der Grundsatz, Religion als Privatsache zu betrachten, gibt für das Verhalten von Sozialisten gegenüber religiös empfindenden Menschen nämlich nicht nur die Richtschnur vor – aus ihm resultiert auch eine Forderung an den jetzigen Staat: Im Namen der Gewissensfreiheit fordern wir die Abschaffung aller Privilegien, von denen die Gläubigen gegenüber den Ungläubigen profitieren; wir bekämpfen alle Bestrebungen, die die Kirche verfolgt, um ihre Macht innerhalb des Staates auszubauen. In diesem Ziel sind sich alle Sozialisten einig. Da es hierbei jedoch um eine politische Frage geht, die sich in jedem Land anders stellt, haben die sozialistischen Parteien ihre Taktik den Umständen entsprechend zu wählen.
In Deutschland und Frankreich verfolgen die sozialistischen Parteien vollkommen entgegengesetzte Optionen. In Deutschland hat die Sozialdemokratie nicht nur am Kulturkampf[2], der zwischen 1870 und 1880 tobte, nicht mitgewirkt, sondern sie unterstützt auch regelmäßig die Bemühungen der Jesuiten um Gleichbehandlung.[3]
[1] Die Umfrage kam von der Zeitschrift „Le Mouvement Socialiste“ aus Paris. 1902/03 antworteten 24 Persönlichkeiten, u. a. August Bebel, Eduard Bernstein, Enrico Ferri, Léon Furnémont, James Kair Hardie, Paplo Iglesias, Karl Kautsky, Peter Knudsen, Paul Lafarque, Harry Quelch, Marie-Èdourd Vaillant, Èmile Vandervelde und Georg von Vollmar. Den Auftakt gab André Morizet mit „Avant-Propos“ in Nr. 107 vom 1. November 1902, der in Nr. 118 vom 15. April 1903 auch das Ergebnis zusammenfaßte.
[2] Siehe S. 427, Fußnote 4.
[3] Die „Gesellschaft Jesu“, der Jesuitenorden, war durch ein Gesetz vom 19. Juni 1872 diskriminiert worden. Es verbot den Jesuiten die Niederlassung im gesamten Reichsgebiet, verfügte die Auflösung bestehender Niederlassungen binnen sechs Monaten, drohte allen aus dem Ausland stammenden Jesuiten die Ausweisung an und belegte die etwa 220 deutschen Ordensmitglieder mit Aufenthaltsbeschränkungen.