Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 377

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Eine Stunde vor der Entscheidung

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Das Spiel vom Jahre 1891 wiederholt sich.[2] Die erste Phase des Schlußkampfes – die unvermeidliche Einleitung der Verfassungsrevision in der Kammer nähert sich dem entscheidenden Moment, und die klerikale Mehrheit sucht nun durch allerlei parlamentarische Kniffe den Hals aus der Schlinge zu ziehen. Sie versuchte es erst, mit provisorischen Budgetbewilligungen etc. die Sache zu verschleppen und hinauszuschieben, gestern warf sie sich plötzlich auf das entgegen gesetzte Mittel und machte zuerst eine letzte Anstrengung, um die Debatte über die Eröffnung der Verfassungsrevision zu erdrosseln und zu eskamotieren. Nur dem gewaltigsten Aufgebot revolutionärer Energie seitens der sozialistischen Abgeordneten war es gelungen, die alten Verbrecher im letzten Augenblick von ihrem gefährlichen Beginnen doch noch Abstand nehmen zu lassen. Sonst hätten wir bereits auf den Straßen Brüssels, als die einzige Antwort – einen regelrechten Bürgerkrieg.

Über die gestrige erschütternde Szene der Kammersitzung bringt die „Frankfurter Zeitung“ das folgende ausführliche Privattelegramm:

Brüssel, 17. April. Der erste Redner in der heutigen Sitzung ist der Bürgermeister von Gent, der liberale Abgeordnete Braun. Er schlägt eine Abstimmung über die Revisionsfrage für heute, spätestens für morgen vor. – Der Ministerpräsident de Smet de Naeyer nimmt den Vorschlag Brauns an und modifiziert ihn dahin, daß die Kammer heute so lange tagen soll, bis sie zur Abstimmung gelangt. (Die Sozialisten widersprechen, die Rechte klatscht.)

Vandervelde erklärt, das Land erwarte mit Ungeduld ein Wort des Friedens, wie es der Genter Bürgermeister vorgeschlagen hat. Die Sozialisten wollen auch nicht die Verlängerung, aber sie wollen keinen Schluß der Kammer durch einen Gewaltstreich zulassen, da die Linke nicht einmal Zeit gehabt hat, sich zu verständigen. Die Sozialisten werden sich mit aller Gewalt widersetzen. Eure Haltung ist eine tolle Provokation und Kriegserklärung an das Proletariat. Was immer der Ausgang des Kampfes ist, die 300000 Streikenden werden die Bewunderung aller edlen Elemente der Bourgeoisie genießen. (Klatschen bei den Sozialisten.) – De Smet de Naeyer: „Die Kam

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[1] Der von Rosa Luxemburg im Artikel „Steuerlos“, siehe GW, Bd. 1, 2. Halbbd., S. 204, erwähnte Artikel erschien anonym. Sie ist vermutlich die Autorin: Zur ihrer Rolle in der LVZ hatte sie Clara Zetkin am 16. März 1902 berichtet, sie werde ab 1. April 1902 zusammen mit Franz Mehring die politische Leitung der LVZ übernehmen und alles so ordnen, „um Weiteres von hier aus durch Artikel und Übersichten zu tun“. [Redaktionelle Hervorhebung.] Der belgische Wahlrechtskampf bildete außerdem 1902 einen Schwerpunkt ihrer Beobachtungen und Analysen. Siehe: „Der dritte Akt“, „Steuerlos“, „Die Ursache der Niederlage, „Das belgische Experiment“ und „Zum dritten Male das belgische Experiment“. In: GW, Bd. 1, 2. Halbbd., ab S. 195.

[2] Am 12. April 1893 hatte die belgische Kammer den Antrag zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts und alle anderen Anträge für eine Wahlreform abgelehnt. Der Generalrat der belgischen Arbeiterpartei rief daraufhin am 13. April zum sofortigen Ausstand auf. Diesem Aufruf folgten etwa 250000 Arbeiter. Durch diesen Massenstreik vom 13. bis 18. April 1893, bei dem es zu Straßendemonstrationen und Zusammenstößen mit der Polizei kam, sah sich die Kammer gezwungen, den Forderungen zu entsprechen. Sie beschloß am 18. April das allgemeine Wahlrecht mit Pluralvotum, wonach eine Person unter bestimmten Voraussetzungen (Steueraufkommen, Schulbildung) mehrere Stimmen abgeben konnte.