Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 596

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Unsere Aufgabe

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Immer mächtiger streckt und reckt sich unsere Partei, immer größere Massen flüchten sich in der Erkenntnis, daß nur sie die rücksichtslose Vertretung der Volksinteressen verbürgt, unter ihre Sturmfahne. Ein Gebiet nach dem anderen zieht sie in den Bereich ihrer politischen Tätigkeit, weiter und weiter dehnt sich ihr Angriffsfeld. Mit dieser Ausdehnung des Kampfterrains vermehren und komplizieren sich aber auch zugleich die Aufgaben unserer Presse, wachsen auch ihre Pflichten und ihre politische Verantwortlichkeit, speziell im gegenwärtigen Moment, wo am politischen Horizont des autokratischen Nachbarreiches sich die Gewitterwolken der Revolution zusammenballen und das Wetterleuchten den Ausbruch des Sturmes, die Zertrümmerung des russischen Absolutismus, des stärksten Bollwerkes der Reaktion in Europa kündet. In solchem Moment drängt sich die Frage auf: Welche Aufgabe hat unsere Presse zu erfüllen, wie wird sie den in berechtigter Weise an sie zu stellenden Anforderungen gerecht, Führer und Bannerträger in dem Kampfe des Tages zu sein?[2] Besonders geziemt es sich für die neue Redaktion des Zentralorgans unserer Partei, daß sie sich

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[1] Dieser Leitartikel mit der Aufgabenstellung der neuen Redaktion des Vorwärts wurde von Rosa Luxemburg geschrieben. Im Brief an Leo Jogiches vom 1. November 1905 ist davon die Rede, siehe GB, Bd. 2, S. 228.

[2] Der Vorwärts, der nach dem Tode Wilhelm Liebknechts unter der Chefredaktion von Kurt Eisner immer mehr in das Fahrwasser der Opportunisten geraten war, hatte sich 1905 auf die Seite der Gegner des politischen Massenstreiks gestellt und durch diese Haltung große Empörung bei der Mehrheit der Sozialdemokraten ausgelöst. Dieses Problem hatte auch auf dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie in Jena 1905 eine Rolle gespielt. Vom Parteitag war eine Fünfzehnerkommission eingesetzt worden, um den sachlichen Inhalt einiger Anträge zu prüfen, in denen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen sozialdemokratischen Zeitungen, besonders dem Vorwärts und der Leipziger Volkszeitung, über taktische Fragen, vorwiegend den politischen Massenstreik, als „Literatengezänk“ bezeichnet wurden und die unter diesem Deckmantel die Einstellung der Auseinandersetzung forderten. Die Kommission verwarf diesen Standpunkt. Der Vorwärts vom 22. Oktober 1905 veröffentlichte die Kündigung der sechs bisherigen Vorwärts-Redakteure. Am 25. Oktober 1905 druckte der Vorwärts die Mitteilung des Vorstandes der Sozialdemokratischen Partei ab, daß in einer Sitzung leitender Funktionäre der Partei am 23. Oktober 1905 in Berlin die Kündigung der Vorwärts Redakteure akzeptiert und Maßnahmen zur Ergänzung der Redaktion beschlossen worden waren. An dieser Zusdammenkunft hatten teilgenommen: der Parteivorstand, die Vertrauensleute von Berlin und Umgegend, die Vorsitzenden und Kassierer der acht sozialdemokratischen Wahlvereine, die Lokalkommission, die Agitationskommission für die Provinz Brandenburg sowie Abgeordnete und Kandidaten der Wahlvereine Berlins und Umgegend für den Reichstag. Die neue Redaktion nahm mit Rosa Luxemburgs als Verantwortliche ab 1. November 1905 ihre Tätigkeit auf.