Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 742

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Die Revolution in Rußland

[1]

Die Matrosen halten die Stadt Sewastopol weiter in ihren Händen. Sie haben Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Ruhe getroffen. Musterhafte Ordnung und Sicherheit herrschen auch in der Stadt, die Schachzüge der Konterrevolution werden mit Nachdruck und Energie, aber ohne jede Ausschreitung konterkariert. Die Regierung wagt nunmehr, nach den Erfahrungen in Kronstadt,[2] nicht, reguläre Truppen gegen die „Meuterer“ zu gebrauchen, weil die Soldaten alsdann auf die Seite der Matrosen übergehen, anstatt sie niederzumetzeln. In diesem Augenblick sinnen die Zarendiener auf Mittel, die wirkliche Ruhe und Ordnung, die in Sewastopol herrschen, durch irgendeinen Schurkenstreich in zarenfromme Anarchie und Verbrecherorgien zu verwandeln.

Der offiziöse „Petersburger Telegraph“ meldet: Sewastopol, 27. November. Gegenwärtig herrscht in der Stadt Ruhe. Die Offiziere und Mannschaften des Kreuzers „Otschakow“ sind gezwungen worden, das Schiff zu verlassen. Auf den Panzerschiffen „Rostislaw“ und „Tri Swjatitelja“ [Die drei Heiligen] verhält sich die Bemannung ruhig und zeigt keine Neigung, sich den Meuterern anzuschließen. Ein Bataillon Reserve hat mit den meuternden Matrosen gemeinsame Sache gemacht. Über die Festung ist der Belagerungszustand verhängt worden. Die Matrosen tun ihren regelrechten Dienst ohne Offiziere, patrouillieren in der Stadt und arretieren ihre Kameraden, welche keine Erlaubnisscheine haben, die Kasernen zu verlassen.

Petersburg, 28. November. Der telegraphische Verkehr mit Sewastopol ist wieder hergestellt. Nach nachmittags eingelaufenen Berichten sind die Forderungen der meuternden Matrosen und Soldaten ausschließlich wirtschaftlicher Natur, weshalb Graf Witte[3] einen Vertreter nach Sewastopol entsandte, der sich über die dortige Lage informieren soll. Trotzdem die meuternden Soldaten und Matrosen das Arsenal wie überhaupt die ganze Stadt besetzt halten, wurde die Ruhe doch nicht gestört. Die Matrosen halten ohne Offiziere die Ordnung aufrecht.

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“.

[2] Siehe Rosa Luxemburg: Die Wahrheit über Kronstadt. In: GW, Bd. 6, S. 691 ff.

[3] Graf Witte war von 1892 bis 1903 Finanzminister und von Oktober 1905 bis April 1906 Ministerpräsident Rußlands. Er war Monarchist, aber zeitweilig zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit. Letzten Endes war er maßgeblich an der Unterdrückung der Revolution beteiligt.